Startseite
Ich über mich
Songtage 1968
Olympia 1972
Bitte auf deutsch!
Veröffentlichungen
Verweise ("Links")
Texte
Gästebuch

 
Von Oedipus, Frau P. und der Liebe überhaupt

Auf dem Teller dampft die Pizza — eine viel zu kleine Pizza natürlich, wie Kai kritisch feststellt , der gleichwohl froh ist, dass er nur die Hälfte davon essen muss.  Zwischen Artischocken, Salami, Tinten- fischen und Muscheln erzählt Mama von den jüngsten Vorstellungen des Kleinen:
“Kai will übrigens mich heiraten und dann sofort ein Baby machen.“ Papa ist erleichtert. Endlich zeigt der Sohn Ansätze eines echten Oedipus-Komplexes!
“Willst Du mich dann auch totmachen, Kai?“
“Nein!“ Das klingt eigentlich ziemlich überzeugend. Papa ist enttäuscht. Na gut, es ist einerseits beruhigend zu erfahren, dass der Sohn vorerst nicht beabsichtigt, den Vater umzubringen, aber ein echter Oedipus-Komplex ist das natürlich nicht!

Während Papa sich in den historischen Tiefen der griechischen Mythologie zu verlieren droht und sich ausmalt, wie der Sohn ... nein, Schluss damit! Jäh wird er in die Wirklichkeit zurück geholt: Kai steigt hinter seinem Vater auf den Stuhl und schlingt seine Arme um Papas Hals. “Wann bekomme ich endlich ein Pferd?“
Diese Frage kommt nun wirklich überraschend — eigentlich war von Pferden noch nie die Rede, jedenfalls nicht davon, dass Kai eines bekommen sollte. Ein Pferd? Um Gottes willen! Wohin mit dem Vieh? Wer reitet jeden Tag die 71 Stufen hoch, um das Pferd dann auf dem Balkon anzubinden? Und was, um Himmels willen, sollen wir mit den Äpfeln anfangen, die so ein Pferd notgedrungen hinterlässt? So viele Topfblumen haben wir überhaupt nicht!

Papa ist fest entschlossen, das Thema Pferd nicht weiter zu verfolgen, sondern lieber noch einmal zu klären, wie das alles werden soll, wenn Kai die Mama heiratet und mit ihr ein Kind bekommt.

“Kai, aber wenn du die Mama heiratest, was wird dann aus mir? Ich meine, ich hab doch schon die Mama geheiratet!“
“Wieso?“ kommt es unverzüglich aus Kais Mund.
“Ja, das frage ich mich allerdings auch“, sagt Papa. Es gibt halt Sätze, die sprechen sich sozusagen von selbst aus, die steigen auf, verweilen gar nicht erst im Mund, sondern ergießen sich in die Welt... Natürlich meint der Papa es nicht so, aber lieber einen Krach mit der Frau riskieren, als auf eine Pointe verzichten!
Papa beschließt also, die Frage nicht zu beantworten, sondern seinerseits auf einer Antwort zu bestehen: was nämlich aus ihm werden soll. Kai findet eine verhältnismäßig einfache Lösung:
“Du bleibst dann die ganze Zeit im Schlafzimmer!“
“Ja, aber wenn du im Schlafzimmer mit der Mama ein Baby machst, dann kann ich doch nicht dableiben?!“
Kai überlegt kurz, dann findet er die einleuchtende Lösung:
“Dann bleibst Du eben in deinem Arbeitszimmer.“

Natürlich — das heißt ja im Klartext, dass sich weiter nichts ändern würde. Papa bleibt im Arbeits- zimmer — na und? Fällt das etwa noch auf?

Aber selbst wenn der Vater sich im Arbeitszimmer eingräbt -  Kai muss bald feststellen, dass seiner geplanten Heirat mit der Mama doch einige Hindernisse im Weg stehen. Statt aber tatenlos zu jammern und irgendwelche ungreifbare böswillige Instanzen wie die Finanzbehörden, Bayern München oder den Vatikan für sein Unglück verantwortlich zu machebn, ist er zur Tat geschritten, hat sich anderweitig umgesehen und ist auch schon fündig geworden — denn vom Heiraten lässt er sich so schnell nicht abbringen, da bleibt er erzkonservativ. Keinen Gedanken verschwendet er an alternative Formen menschlichen Zusammenlebens. Eine Wohngemeinschaft etwa? Ausgeschlossen — eine Zweierbeziehung muss es sein, und die hat er jetzt im Kindergarten gefunden.  Die süße blonde Ariane etwa, die so schmelzend “Kaiiii!“ sagen kann?  Nichts da — zugegeben, er fand sie ja mal ganz nett, aber sie hat ihn ganz infam betrogen und sich mehr und mehr dem Dennis zugewandt. Inge, seine erste Liebe, ist inzwischen in der Schule, fällt also auch aus. Was bleibt? Isabell? Nun ja, die bezeichnet er schon mal als seine Freundin, aber das hat wenig Verbindlichkeit. Außerdem, ihm geht‘s ja nicht um eine flüchtige Freundschaft, sondern ums Heiraten, und dazu kommt offenbar niemand anderes in Frage als Frau P.,
die Leiterin des  Kindergartens.

Mama ist die erste, die seinen Entschluss erfährt. “Übrigens, Mama, Du  musst der Frau P. einen Brief schreiben.“
Mama ist etwas verwirrt — bis jetzt hat die Kommunikation von Mensch zu Mensch eigentlich auch ohne den Umweg über das geschriebene Wort funktioniert. Was also soll sie wohl an Frau P. schreiben?
“Also“, sagt Kai und setzt die ernsteste Miene auf, deren er fähig ist — und er ist einer ganzen Menge Mienen fähig! — “schreib erst mal: LiebeFrau P ...“

Ein Beschwerdebrief wird‘s schon mal nicht, denkt Mama und wartet gespannt auf den Fortgang des Diktats. Kai ringt nun mit den Worten und diktiert schließlich:

“Ich finde Sie sehr nett und ich möchte Sie heiraten.“

Peng! So einfach vom Thron gestoßen zu werden und einer Nebenbuhlerin zum Opfer zu fallen, kann keine Mutter unerschüttert lassen. Jetzt ist es also heraus: der Sohn wildert in fremden Jagdgründen....
Mama verbeißt sich das Lachen und fragt Kai ganz ernsthaft, ob er nicht doch etwas zu jung zum Heiraten sei. Typisch, diese betuliche Überheblichkeit der Erwachsenen, die immer so tun, als wüssten die Kinder nicht, wo die Glocken hängen! Kai weist seine Mutter denn auch deutlich zurecht, und der leicht verächtliche Unterton in der Stimme ist nicht zu überhören:
“Natürlich erst, wenn ich groß bin!“ Man merkt ihm deutlich an, wie gering er in diesem Augenblick die intellektuellen Qualitäten seiner Mutter einschätzt.
Mama sieht ein, dass sie ihrem Sohn im Augenblick argumentativ wohl nicht gewachsen ist und verzichtet auf eine weitere Erörterung. Der Brief wird geschrieben und Frau P. am nächsten Tag übermittelt. Sie zeigt sich sehr angetan davon, erklärt Kai ihr grundsätzliches Einverständnis, und so ist die Angelegenheit zunächst einmal geregelt.

Papa erfährt von allem — wie immer — erst ein paar Tage später. Er zeigt sich nicht sonderlich überrascht, eher erleichtert darüber, dass die Sache mit dem Oedipus offenbar harmloser ausgeht als damals und stellt Kai lediglich ein paar kleingeistig-spießbürgerliche Fragen wie zum Beispiel die, ob denn Frau P. nicht schon einen Mann habe. Kai weist ihn mit souveräner Geste zurück:
“Natürlich nicht. Erzieherinnen haben keinen Mann!“
Gegenüber einer offensichtlich so fundierten Erkenntnis hat jeder väterliche Widerstand zu schweigen. Papa sieht das wohl ein und liefert nur noch Rückzugsgefechte wie etwa den völlig unpassenden Hinweis, dass Frau P., wenn Kai alt genug zum Heiraten sei, ja dann auch schon mindestens vierzig oder noch mehr... Als ob so etwas ein Hindernis sein könnte!

Kai wird also Frau P. heiraten, daran ist wohl nicht mehr zu rütteln.


 Von den Gesichtern derLiebe