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Dieser Text
entstand
1995 anlässlich Das Gedicht lehnt
sich
an einen |
Das Papier war
zerknittert,
einige Buchstaben völlig verwischt. Links unten ein Fleck,
ausgefranst,
als sei ein Tropfen einer salzigen Flüssigkeit darauf gefallen.
Noch
einmal las er die Zeilen, suchte sich selbst in den Worten und wusste
nicht,
ob er es gewesen war. Ihr, die ihr meint, stets alles zu verstehen
und euch zu Richtern wohl berufen glaubt, habt mich verurteilt, und so ist mir Recht geschehen, und ich bin nicht mehr da, der euch die Ruhe raubt. Ihr wisst mich sicher hinter Mauern, hinter Gittern, ihr tötet mich und fühlt euch ganz im Recht. Ihr wisst, nun müsst ihr nicht mehr vor mir zittern - ihr seid so gut - und findet mich so schlecht...
Ihr habt es nie verstanden, mich zu lieben,
ihr habt auch nie verstanden, wer ich bin. Ihr habt geurteilt, habt mich aus der Welt vertrieben, und meine Todesangst verwirrt euch nicht den Sinn. Ich wollte lieben, doch ihr habt mich übersehen, und auch mein Schreien hat euch nicht gestört... Ihr, die ihr meint, stets alles zu verstehen, habt nichts verstanden, nichts gesehen, nichts gehört.
Wenn sie jetzt kämen um ihm zu sagen, dass er aufstehen könnte und gehen, irgend- wohin, nach Hause, zu Tanja, an das Ufer der Druna, wo sie oft gelegen hatten im Schatten der Birken, damals, als alles noch anders war, zu Tanja? - wenn sie jetzt kämen, um ihm zu sagen, dass er begnadigt war, wenn er jetzt diese Schritte im kahlen Flur hören würde, diese untrüglichen, rhythmischen, zielbestimmten Schritte und das Knirschen des Schlüssels im Schloss - es würde ihn nicht mehr berühren. Denn auch, wenn sie jetzt kämen, um ihm zu sagen, dass das Kommando bereit stand und der Priester auf ihn wartete, wenn er jetzt diese Schritte im kahlen Flur hören würde, diese untrüglichen, rhythmischen, zielbestimmten Schritte und dann das Knirschen des Schlüssels im Schloss - er würde nur noch mit den Schultern zucken: Es ist gleichgültig, ob du Stunden oder Jahre wartest, wenn du einmal aufgehört hast zu glauben, dass du ewig bist, dass irgendeine Spur von dir sich irgendwo im Weltall eingräbt. Er war ruhig und er sah seinen Körper, der bald nichts mehr sein würde als ein Klumpen zuckendes Fleisch, ein Haufen verwesender Gedärme, ein Haufen vermodernder Knochen, ein Haufen Staub, ein Haufen Nichts - er sah diesen Körper, er schaute mit seinen Augen, horchte mit seinen Ohren auf die Schritte im Flur, auf das Knirschen des Schlüssels im Türschloss - aber er war es nicht mehr selbst. Es schwitzte und zitterte in ihm, und er sah zu, und er wusste nicht mehr, wem dieses Schwitzen, dieses Zittern gehörte. Er musste diesen Körper berühren, ansehen, um zu erfahren, was aus ihm wurde - so, als sei es der eines anderen, eines Fremden. Manchmal spürte er noch etwas, wie eine Welle durch ihn hindurchging, sich überschlug, so, als säße man in einem Flugzeug, das plötzlich absackt. Und manchmal fühlte er sein Herz schlagen, aber das war kein Herzschlag, der ihn beruhigte: Da bewegte sich etwas in ihm, was ihm gar nicht mehr gehörte - er hörte seinem eigenen Herzschlag zu und es war etwas, das mit ihm gar nichts mehr zu tun hatte. Gar nichts mehr. Das also hieß Sterben: Aus sich heraus treten und den Körper allein lassen. Zusehen, wie die Kugeln Löcher in diesen Körper bohrten, Löcher, durch die der Tod Eingang fand. Zusehen? Aber wie denn zusehen? Wer war das, der zusah? Da war einer, der sagte "Ich" , und der konnte sich vorstellen, dass sein Körper nichts mehr sein würde als ein blutiger Klumpen Fleisch. Aber was wurde denn aus dem, der da "Ich" sagte"? Wohin ging dieses "Ich", wohin verlor es sich, wo löste es sich auf, wie konnte es sein, dass es einfach nicht mehr war? Musste denn da nicht ein ungeheurer Schrei die Welt zerschneiden? Ich bin nicht ewig, ich bin nicht unsterblich, aber ich bin doch "Ich", ich bin doch - ich kann doch nicht nicht sein! Das also hieß Sterben: Nicht mehr "Ich" sagen können. Er
spürte sein Herz schlagen, er hörte seinen Atem, er
fühlte die Nässe auf seiner Haut, er roch, wie der
Schweiß sich zersetzte, und er fühlte
seinen Körper, der auf einmal nichts mehr sein sollte als ein
blutiger
Klumpen Fleisch, ein Haufen verwesender Gedärme, ein Haufen
vermodernder
Knochen, ein Haufen Staub, ein Haufen - Nichts. Und es war sein
Körper,
in dem ihre Kugeln zerplatzen würden, sein Körper, in den sie
Löcher
bohren würden, durch die der Tod Eingang fand. Und es waren seine
Augen,
die ins Dunkel starrten und nichts sahen, und seine Ohren, die auf die
Schritte
horchten, auf diese untrüglichen, rhythmischen, zielbestimmten
Schritte
und dann das Knirschen des Schlüssels im Türschloss. Es ist
nicht
gleichgültig, ob du auf den Tod wartest, wenn du einmal erkannt
hast,
dass du nicht ewig bist, dass sich nirgendwo im Weltall eine Spur von
dir
eingraben wird und dass du nur jetzt lebst, nur einmal, und dass 23
Jahre
eine verdammt kurze Zeit sind. Sein Körper schwitzte und zitterte, und er wusste, wem dieser Körper gehörte. Es war sein Körper, nicht mehr der eines anderen; der Herzschlag, den er spürte, war sein eigener, und etwas ging wie eine Welle durch ihn hindurch sich überschlagend, so, als säße er in einem Flugzeug, das plötzlich absackt. Er zitterte, und es war nicht die Kälte, es war die Angst, die ihn zittern ließ ,es war die Angst, die ihn schwitzen ließ, und es war die Angst, seine Angst, die sich in sein Gehirn fraß und immer größere Fetzen aus seinem Bewußtsein riss. Es war seine Angst - und es waren seine Augen, die den Lichtschimmer unter der Tür sahen, es waren seine Ohren, die die Schritte hörten, diese untrüglichen, rhythmischen, zielbestimmten Schritte, die immer näher kamen, und er hörte das Knirschen des Schlüssels im Türschloss, und als die Tür aufgerissen wurde, da schrie er, und sein ungeheurer Schrei zerschnitt die Welt. Der Mann in der Uniform stand vor ihm, und sein fauliger Atem schlug ihm ins Gesicht. "Sergej
Maximowitsch, Sie sind wegen Mordes an Tanja Iwanowna zum Tode
verurteilt worden. Ihr Verteidiger hat vor zehn Tagen ein
Gnadengesuch beim Präsidenten
eingereicht. Ich bin beauftragt Ihnen mitzuteilen, dass der
Präsident
Ihr Gnadengesuch angenommen hat. Sie können diese Zelle
unverzüglich
verlassen und werden in den normalen Trakt umgelegt. Über die
Dauer
Ihres Gefängnisaufenthalts wird noch entschieden werden."
Von weit her kamen diese Worte, und sie drangen in sein Bewusstsein und füllten die Löcher, die die Angst gerissen hatte. Du wirst leben --- - leben! "Ich" sagen. Dich selbst spüren, dein Herz schlagen hören, die Welle fühlen, die durch den Körper geht und sich überschlägt, wie wenn ein Flugzeug plötzlich absackt. Die Nässe auf der Haut spüren, dein eigenes Atmen hören, deinen Schweiß riechen - leben! Der
Mann
in der Uniform schaute ihn durchdringend an. Eine Dusche nehmen - ja, alles abspülen, den Schweiß, den Geruch der Angst und des Todes. Alles wegspülen. Er nickte. Der Mann in der Uniform nickte zurück. "Kommen Sie! Ein Handtuch finden Sie im Duschraum." Die Gänge waren leer. Die Schritte hallten auf dem Steinboden. Er hörte sein Herz, es schlug ruhiger und es war sein Herz, und es würde weiter schlagen, hinter Gittern, auf engstem Raum, in Kälte und Dunkelheit, aber es würde weiter schlagen, und noch sollte der Tod keinen Eingang finden. Sie
kamen
am Duschraum an. "Die Hinrichtung durch Selbstschussanlagen", sagte der Mann in der Uniform zu dem Abgeordneten, "hat eine Reihe von Vorteilen. Der Verurteilte weiß nicht, was ihm bevorsteht, er ist ruhig, wir ersparen uns den Aufwand mit dem Priester, und vor allem macht sich keiner die Hände schmutzig. Sie wissen ja," lächelte er, "mancher macht sich halt seine Gedanken..." In
der
Hosentasche des blutigen Klumpens Fleisch, der einmal ein Mensch
gewesen
war, fand der Mann in der Uniform ein Stück Papier. Er las es,
schüttelte unmerklich den Kopf, zerknüllte es und warf es in
den Papierkorb. Das
meiste war unleserlich geworden von dem Blut. Nur die letzten beiden
Zeilen
waren noch zu lesen: Ihr, die ihr meint, stets alles zu verstehen
habt nichts verstanden, nichts gesehen, nichts gehört
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zuletzt
geändert 30.05.2022
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