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                Kai und die Wissenschaft
 

Später, ein Jahr danach, etwa - Kai ist ja inzwischen in der Schule - wird er im Tierschutz doch deutlich laxer. Gewiss, er wettert noch immer gegen die Industrie, die die Luft verpestet, gibt aber auch zu, dass das Leben ganz ohne Technik doch ein wenig beschwerlicher wäre, und bei Tieren lässt er sich auf Kompromisse ein: Fische beispielsweise, die er in Verbindung mit Tomatensauce, Zwiebelringen und Pfefferkörnern, Pflanzenoel, Zucker und Weinessig, Speisewürze, Verdickungsmittel und modifizierter Stärke sowie Milcheiweiß, appetitlich in einer ALDI-Konservendose aufgebahrt, durchaus zu schätzen weiß - Fische also würde er eventuell selbst fangen, wenn er das nötige Gerät hätte. Allerdings, an der erforderlichen Solidarität unter den Schwachen lässt er ‘s noch nicht fehlen:
,,Einen kleinen Fisch fange ich natürlich nicht!“ ‚ erläutert er dem etwas verwirrten Papa, der denn auch gleich nachfragt:

- Einen großen vielleicht?
- Ja, vielleicht einen Vater.
- Soll der kleine Fisch etwa keinen Vater haben?
- Dann soll er sich eben einen Vater leisten!“

Basta! Einen Vater leistet man sich wie irgendein anderes überflüssiges Konsumgut - einen Videorecorder mit Rückwärtston zum Beispiel oder einen fahrbaren Dosenöffner mit herausnehmbarem Goldfilter oder einen silbernen Toilettenpapierhalter, der bei jeder Benutzung “Üb‘ immer Treu und Redlichkeit“ spielt...

Keineswegs überflüssig dagegen ist die Lupe, ein Instrument, das nicht nur kriminalistischen Zwecken dient, sondern auch und vor allem wissenschaftlichen. Und da Kai sich inzwischen vom reinen Tier-
schützer zum Tierforscher ernporgearbeitet hat, ist es ganz natürlich, dass er es nicht beim Zoobesuch bewenden lässt, sondern die dort erfahrenen wissenschaftlichen Beobachtungsmethoden auf zu Hause greifbares Material zu übertragen trachtet. Nun gibt‘s in diesem tierfeindlichen Haus aber weder einen Hund noch eine Katze noch ein Meerschwein oder einen Hamster, keinen Goldfisch und keine Guppys, ganz zu schweigen von sperrigeren Haustieren wie Pferden, Bernhardinern, Giraffen, Alligatoren oder Breitmaulfröschen — rein nichts, was wissenschaftlich zu erforschen sich lohnte, hätte da nicht ein gütiges Schicksal ein ideales Untersuchungsobjekt ins Haus geweht: eine tote Fliege, von hinnen gegangen durch Altersschwäche oder ertrunken in diesem regenreichen Sommer.

Tierforscher Kai macht sich an die Arbeit, ruhig, besonnen, ohne Hektik und mit aller gebotenen Sorg-
falt. Zunächst zieht er sich eine lange Hose an und setzt eine Maske auf, anschließend greift er zu Lupe und Pinzette. Von den wie gewöhnlich ahnungs - und verständnislosen “Großen“ nach dem Sinn solchen Tuns gefragt, erläutert er, nicht ohne den ärgerlich-mitleidigen Unterton hören zu lassen, der solchen Fragen (und Fragern) gebührt, dass er natürlich einen Asbestanzug tragen müsse:

“Schließlich könnte es ja sein, dass das Tier sich nur tot stellt!“

Nicht auszudenken, was geschähe, wenn die Fliege tatsächlich ihre Maskerade aufgäbe! Jens, der solche Warnungen in den Wind schlägt, ja, sie sogar als lächerlich abtut und mit dem Zeigefinger eindeutige Bewegungen in Richtung auf Kais Stirn macht, wird umgehend vom Balkon gewiesen, auf dem die Unter-
suchung der Fliege stattfindet.

Etwas später allerdings kommt Professor Kai doch zu seinem großen Bruder, um dessen fachlichen Rat einzuholen. Jens aber ist unwirsch:

“Ach! Erst wirfst du mich hinaus, und dann soll ich dir helfen?“ Kai, mit der ganzen Würde seiner 143 Zentimeter:

“Herr Kollege, Sie haben soeben Ihre wissenschaftliche Karriere zerstört!“

Es wird abzuwarten sein, wie Jens sich von diesem Schicksalsschlag erholt...