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Ich über mich | Olympia 1972 |
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18.
Februar: Helga war mit
Detlev beim
Halsarzt, der eine Wucherung
hinter der Rachenmandel
feststellte. Er war vorbildlich brav bei der Untersuchung. Nun
soll er zu einem
späteren Zeitpunkt operiert werden. Er ist ja wohl immer noch
raunzig und
weichlich, geht aber tapfer dagegen an. Als
die Kinder einmal zum Rodeln angezogen
wurden, kam er hereinstolziert: „Ich bin ein Held!“ Er hatte
nämlich vor, ohne
Heulerei den Abhang hinunter zu rodeln. Waltraut stellte aber nachher
sachlich
fest, dass er und Heinzel Feiglinge gewesen seien. ******************************************** Ein Held! Nun gut, ich gebe
es zu, ein
Held so im engeren Sinn war ich nicht, eigentlich eher das Gegenteil –
meine
große Schwester hatte mit ihrer tadelnden Bemerkung leider Recht.
Den wilden
Rodelabfahrten konnte ich nicht so viel abgewinnen, und auch
später in Essen war
ich jederzeit bereit, denjenigen zu glauben, die die 25 Meter lange,
sanft abfallende
Strecke im Margarethenwald als „Todesbahn“ bezeichneten. (Im Flachland
nämlich,
das habe ich später gelernt, mutierte jede einigermaßen
abschüssige Straße zur
Todesbahn.)
Ein Held also war ich nicht,
aber immerhin
habe ich mich später nicht verdrückt, wenn es galt, die vier
Kilometer lange
Straße durchs Halltal hinunter zu rasen. Das war eine
Rodelstrecke, von der die
Ruhrgebiets-Flachlandtiroler nicht einmal träumten. Einen
Vormittag lang stieg
man da hinauf, von 578 bis in 1287 Meter Höhe – auf der
Straße, die im Sommer
von berggängigen Autos befahren werden konnte und zum Eingang des
Salzbergwerks
führte. Im Winter aber war diese Straße gesperrt und zum
Rodeln freigegeben.
Wenn wir oben waren, legte
sich der
Kühnste und Sportlichste (das war nun allerdings nicht ich!) auf
dem ersten
Schlitten auf den Bauch und wir anderen hängten uns alle daran und
rasten in einer
langen Schlange nach unten, laut schreiend, wie es junge Leute heute
auf den
Achterbahnen in den Disney-Welten und Fantasialändern und
Heideparks dieser
Welt tun, und ab und zu einem erschreckten entgegen kommenden
Winterwanderpaar
markerschütternd entgegen rufend: „Ausg’stellt oder
niederg’schnellt!“(In
norddeutsches Idiom übertragen, heißt das einfach: Platz
gemacht oder
umgenietet!). Die Betroffenen konnten sich dann eben noch zur Seite
werfen und
fassungslos die wilde verwegene Jagd an sich vorbeiziehen sehen, in der
Gewissheit,
dass die Walküren ihre luftigen Rösser gegen sehr irdische
Rodelschlitten
eingetauscht hatten.
„Ausg’stellt oder
niederg’schnellt!“ – ich
schwöre es, ich habe diese ja eh nicht ernst gemeinte
Mentalität nicht mit in
mein Autofahrerleben genommen. Ich fahre nicht nach dieser Devise, wenn
ich
mich in Deutschlands größte offene Psychiatrie, das
Bundesautobahnnetz, wage,
dahin, wo täglich die aus den Käfigen der Bayerischen
Motorenwerke entlassenen
Raubtiere sich brüllend auf die mit dem Stern werfen und
höchstens widerwillig mal
einen Lamborghini oder Ferrari vorbeiziehen lassen, wo die Herren der
(vier)
Ringe in der TT-Version gnadenlos Lupo und Fox, Micra und Panda, Uno
und Una
und anderes Kleingetier jagen, wo aufgeplusterte Lieferwagen an der
hinteren
Stoßstange all derer hängen, die sich weigern, schneller als
150 zu fahren und wo die
hochgerüsteten V 10 TDI nebeneinander
zu dritt auf zwei Spuren ihren permanenten Golfkrieg austragen. Wann
werden für
die Helden und Gefallenen dieses Krieges Denkmäler aufgestellt?
Es war einmal ein
Autofahrer, der für den
Konstrukteur mit dem guten Stern auf allen Straßen Testfahrten
machte. Seine
Kollegen nannten ihn „Turbo-Rolf“, weil er, wie er vor Gericht zugab,
gerne „zügig“
fuhr – das ist so, wie wenn ein Alkoholiker sagt: „Ich trink schon mal
ein
Bierchen!“ Turbo-Rolf hat zwei Menschen in den Tod gedrängelt und
gehupt: Mit
240 Stundenkilometern ist er auf eine junge Frau zugerast, die es
gewagt hatte,
mit ihrem Kleinwagen die Bundesautobahn Nr. 5 zwischen Karlsruhe und
Bruchsal
zu befahren. Als sie das aus dem Nichts auftauchende 500-PS-Geschoss im
Rückspiegel sah, verriss sie vor Schreck das Steuer, schleuderte
und knallte
gegen einen Baum.
Es war einmal ein
Autofahrer, den nannte
man Turbo-Rolf. Er war auf dem Weg zu seinem Arbeitsplatz. Vor ihm, auf
seiner
Spur, die ihm allein gehörte, weil er ein 500-PS-Auto lenkte, fuhr
eine junge
Frau mit ihrem kleinen Kind in einem Kleinwagen. Hätte er
gewartet, bis sie
wieder auf der rechten Spur war, wäre er 20 Sekunden später
zur Arbeit gekommen.
Aber das mochte er nicht, da hätte er bremsen müssen, und er
wollte nicht
bremsen - Bremsen kostet Reifen, Energie, kostet Zeit und Kraftstoff. Er hat nicht gebremst, sondern seine
Xenon-Scheinwerfer aufleuchten lassen – Leuchtfeuer einer Gesellschaft,
die das
Auto mythisch verklärt und die Beschleunigung zum Grundwert
erhoben hat, mögen
da auch verirrte und verwirrte Schriftsteller die Entdeckung der
Langsamkeit rühmen.
Es war einmal ein
Autofahrer, den
verurteilte das Landgericht wegen fahrlässiger Tötung in zwei
Fällen zu einem
Jahr Haft mit Bewährung, 12.000 Euro Geldbuße sowie einem
Jahr Führerscheinentzug
– das war der Tarif der Justiz für zwei Menschenleben: die junge
Frau und ihre
zweijährige Tochter. Zu wenig? Zu viel? Als der todkranke Maler
Jörg I. sozusagen
zum Abschluss seines Lebens eine große Kokain-Party veranstaltete
und dabei erwischt
wurde, gab es vom Landgericht Düsseldorf 11 Monate und 150.000
Euro Geldstrafe.
Zwei Menschenleben gegen eine Koks-Orgie – wie wägt man das
gegeneinander ab?
Es war einmal ein
Autofahrer, der hieß
Turbo-Rolf und liebte es, in seinem Sportwagen mit den markanten
Xenon-Scheinwerfern und den bulligen Auspuffrohren die Straße vor
sich frei zu
räumen. Er liebte den Adrenalinstoß, der seinen Körper
durchströmte, wenn die
Tachonadel sich der Marke 300 näherte. Er war als Fahrer eines
Sportwagens
Rudelführer, Alphatier, Herrscher über alles, was sich auf
den Straßen bewegte.
Er genoss die Autorität, die aus der Leistung seines Fahrzeugs
entsprang. Er genoss
die Macht und erwartete, dass die anderen diese Macht
akzeptierten. Jeder Überholvorgang ist ein Sieg, eine
Möglichkeit den anderen zu demütigen.
Es war einmal ein
Autofahrer, den nannte
man Turbo-Rolf und der wurde als
Sündenbock
eines Volks von Autobesessenen medial
hingerichtet. Er war gar kein böser Mensch, er hatte,
stellvertretend für eine
Gesellschaft, die sich das olympische Motto „schneller – höher –
stärker“ auf
die Fahnen geschrieben hat, einfach das natürliche Bedürfnis
auszuprobieren, welche
Grenzverletzungen im Rahmen der bestehenden Strukturen noch akzeptiert
werden.
Das Auto als Schutzraum, seine Blechhaut als zweite Haut, die Isolation
und Anonymität
in dem metallenen Miniuniversum, das Gefühl von Freiheit, die
Chance, die
Missachtung sozialer Normen auszuloten in der Gewissheit, dass dies ja
doch nur
als Kavaliersdelikt angesehen würde, der Rausch der
Geschwindigkeit, die
Euphorie, das wachsende Gefühl der Allmacht – da werden
Botenstoffe durchs
Gehirn gejagt, die erlernte soziale Verhaltensweisen ausbremsen und in
totale
Rücksichtslosigkeit explodieren. Definition des sozialen
Stellenwerts durch das
Auto, eine Identität von der Stange, acht Zylinder zur Stimulation
des
Selbstwertgefühls. Das Auto als ultimative Möglichkeit, sich
über die PS-Zahl,
die Beschleunigung, die Überholfähigkeit zu definieren und zu
stabilisieren.
Es war einmal ein
Autofahrer, den nannte
man Turbo-Rolf. Er raste mit seinem
Sportcoupé
durch eine Aufstiegsgesellschaft, die im festgenagelten Blick auf das,
was sie
als Fortschritt ansah, den Ellbogen und den Fuß auf dem Gaspedal
für die
wichtigsten Körperteile hielt. Und vor sich sah er das Plakat, das
zur Chiffre
dieser fortschrittsbesessenen automobilen Gesellschaft geworden war,
die
Jahrhunderte der Aufklärung hinter sich gelassen und sich ganz dem
grenzenlosen
Gefühl des Vorankommens hingegeben hatte : Eine sechsspurige
Autobahn, die auf
die Skyline von Manhattan zuführt –
Fluchtpunkt Amerika, Ziel eines Volks, das die Katastrophe seiner
Vergangenheit
vergessen und seiner biederen Provinzialität entfliehen wollte.
Vorsprung durch
Technik, nur Fliegen ist schöner – Affirmation der reinen Technik.
Es war einmal
ein
Autofahrer, den nannte
man Turbo-Rolf, und die Zeitungen, nicht nur die mit den großen
Buchstaben, prügelten
auf ihn ein, als sei er eine singuläre Erscheinung, ein Monster in
einer
disziplinierten, gesetzestreuen und von Vernunft, sozialem
Verantwortungsgefühl
und Liebe zum Mitmenschen im Kleinwagen geprägten Welt. Aber
stellte sich diese
Welt so dar? Gab es einhellige Empörung über den
Drängler und Raser? Mitnichten!
Empört waren all die mit dem Gaspedal
Verwachsenen, die „Jetzt komm ich!“ und „scheiß auf andere“-
Propheten, die mittelmäßigen,
krankhaft egoistischen Profilneurotiker, die mit einer Backe immer noch
im
Sandkasten sitzen und das Wort „Verantwortung“ für eine Erfindung
der von ihnen
verachteten „Gutmenschen“ und Öko-Spinner halten. Sie empören
sich darüber,
dass Turbo-Rolf verurteilt worden ist, und warum, bitte schön?
Doch nur, weil
das Opfer eine Frau war und die Richterin auch und Frauen vom
Autofahren
sowieso keine Ahnung haben und gefälligst vor dem Kochtopf bleiben
sollen, wo
sie hingehören, statt die linke Spur zu befahren und so den Mann
an seinem
rechtmäßigen Vorankommen zu behindern. Na gut (und hier
erlaube ich mir einmal, die Rudi
Völlersche Gesprächs-einleitung zu benutzen, die inzwischen
durch „O.k“ mit
nachfolgendem „wie gesagt“ ersetzt worden ist, auch wenn vorher noch
gar nichts
gesagt worden war), na gut also, wenn es einer so übertreibt wie
der 67-jährige
Professor, der mit seinem auf 10 Stundenkilometer hinuntergedrosselten
Krankenfahrstuhl von Herne nach Osnabrück auf der Autobahn fahren
wollte und
den staunenden Polizisten erläuterte, frühe sei man
schließlich auch nicht so
schnell gefahren, dann kann man als Autofahrer wohl die Nerven
verlieren, aber
zwischen zehn und zweihundertfünfziog sind ja noch ein paar
Abstufungen
denkbar… |