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Ich über mich Olympia 1972
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      Er fahre viel und schnell, bekennt einer in einem Internetforum, überhole auf der Autobahn auch mit Tempi jenseits von 200, in Baustellen
halte er sich aber an die Tempolimits und werde von all denjenigen wieder überholt, die er vorher als Raser hinter sich gelassen habe: Vorbildlich also – so wie der Großzügige, der einräumt, dass 
schon „ein wenig mehr als 200 Sachen auf die Straße“ kämen, wenn er mal voll durchtrete. Das mache er aber nur nachts, gegen 2 oder 3 Uhr,  da seien dann  auch keine "Oberlehrer" mehr auf dem Highway. „Falls dann doch: runter vom Gas, gemütlich vorbeiziehen, ihm dann die vier Auspuffrohre zeigen. Meistens erschrecken sie alleine vom Sound der 5.7-Liter Maschine. Filmen muss man diese armen Krauterer nicht auch noch... die sind eh schon genug gestraft.“

     Ein anderer gibt zu verstehen, dass er lieber mit professionellen Testfahrern jenseits der 200er-Grenze auf der Autobahn unterwegs sei als
mit „Oberlehrern, die kraft ihres Amtes die linke Spur gepachtet haben und peinlich genau fünf Kilometer pro Stunde unter der zulässigen
Geschwindigkeit den kompletten Verkehr aufhalten
.“

     Geschwindigkeitsrausch, Macht und Ohnmacht, die schnelle Maschine zur Kompensation der Ich-Schwäche - das sind einige der Parameter des Auto-Wahns. Während die Welt mit masochistischem Schauder fast tatenlos zusieht, wie ihr Klima sich mehr und mehr erwärmt, wie immer mehr Wirbelstürme immer größere Landstriche verwüsten, wie New Orleans versinkt, während ein Taifun sich anschickt, die Ostküste Chinas zu verheeren, werden in Frankfurt Kraftfahrzeuge vorgestellt, die mühelos 300 km/h erreichen. "Ab 380 Stundenkilometern wird er etwas zäh", schreibt ein Autotester bewundernd über den Bugatti Veyron. Zum Glück gibt es kaum eine Straße auf der Welt, wo man diese Geschwindigkeit erreichen kann - für das Selbstwertgefühl aber reicht es ein Auto zu besitzen, das so schnell fahren könnte.

     Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuld… so der Tenor der vereinigten Tempomanen, deren Potenz in den rechten Fuß gerutscht ist.
„Die Frau hatte selber Schuld!“, beteuert einer
, „und wenn sie überlebt hätte, hätte man ihr den Führerschein abnehmen sollen. Mit ihrem
popeligen Kleinwagen hat sie nix auf der linken Spur verloren. Wenn die auf der Überholspur rumtuckelt und dann erschrickt, wenn ein schnell
fahrendes Fahrzeug von hinten angeschossen kommt, dann hat sie selber Schuld. Shit happens!“

    Und dann melden sich die Rechtskundigen, die gleichen, die jeden Sexualtäter kurzerhand entmannen und anschließend nach langer
Folterung hinrichten möchten – möglichst eigenhändig, hier aber plötzlich so Zauberworte wie „im Zweifel für den Angeklagten“ entdecken:
Das Urteil sei eine Schande für unser Rechtssystem und nichts anderes als populär gebeugt.  Deutschland sei eben eine Scheiß-
Neidgesellschaft, in der Leistung nicht geschätzt und bewundert werde, sondern ein Objekt des Neides darstelle.  

     „In dubio pro reo“, führt ein gewisser Dr. Best latinisierend an und klärt auf: „Einer musste ja leiden. Und der passte eben genau ins
Feindbild. Er ist ein schnelles Auto gefahren, war nicht gerade der Ärmste und  dann noch eine Frau als Richter und eine Frau als Opfer!!
Und ein Mann als Täter!! Als nächster Schritt bekommen dann die Schnellfahrer noch einen Stern auf die Jacke genäht!!! Ist doch wie in
den guten alten Zeiten.“

     Diese rasierklingenscharfe Argumentation wird übertroffen von dem folgenden Wutausbruch eines aufrechten freien deutschen Bürgers
als Reaktion auf den Vorschlag eines Besonnenen, auf deutschen Autobahnen wie auf allen anderen in der Welt eine Höchstgeschwindigkeit
einzuführen. 

     „garantiert bringt dein kleinwagen nicht mehr aufn tacho  - sach, bist du weltfremd oder schon über 70 ??? wahrscheinlich fährst nur
einmal im jahr aufn sonntag morgen autobahn. so einen stuß mit max nur 140km/h kann ich nicht mehr hören, das ist bullshit. die jenigen,
die sich nicht trauen aufer autobahn zu fahren, weil ja jeder, der schneller fährt als man selbst, gleich jeden entsprechend als raser
abstempelt, sollte seinen führerschein abgeben. jeden als raser abzustempeln, nur weil er mal schnell fährt, ist unterhalb der gürtellinie.
wenn du meinst, nur 140 fahren zu müssen, dann fahr mit der bahn, da haste keinen anderen fahrer im rückspiegel.“

 

     Den ultimativen Durchblick allerdings hat Diskussionsteilnehmer Leroy_X, der nebenbei auch zeigt, wohin im Jahre drei nach PISA die
sprachliche Reise geht:

 

     „Das is echt nimmer normal! Ich behaupte immer noch, das das Urteil daran lag, weils ne Frau war! Nach dem Motto: der fährt nen
fetten schlitten, alle die nen fetten schlitten fahren gasen wie arschlöcher, also er auch. Nur: der is doch Testfahrer (gewesen)! Der weis
doch wie man auto fährt, und das ihm dann ne Mutter in die quere kommt, dies eben net kann, und dann suizid macht, dafür kann er
doch nix!

 

     Eigentlich gehört das Gericht angeklagt! denn das Urteil war net rechtmäsig, und durch den Prozess wurde der Angeklagte zur Sau
gemacht, der kann sich ja nimmer auf der Strasse sehen lassen! Freunde hat er bestimmt auch keine mehr, und vom Geld erst garnet
zu reden, keinen Job mehr, keinen Führerschein! Nur wegen einem falschen Urteil wurde dem angeklagten sein Leben quasi genommen,
demnächst steht in der Zeitung das er Selbstmord beganngen hat! und kurz darauf finden se raus das er net schuld war, aber dann
muss die richterin in den Knast, sammt Schöffen!“

 

     Da dreht sich nun alles so herum, dass man schwindlig wird und sich übergeben möchte: Die Richterin ist die Mörderin, der Täter ist das
unglückliche Opfer und so gut wie tot und die wirklich tote Frau mit ihrem kleinen Kind  - dumm gelaufen - hatte schließlich auf der Autobahn
nichts zu suchen… Denn wie es dort zugehen soll, lernt der potenzielle junge Autofahrer schon im Film – freigegeben ab 12 Jahren, denn
die Kinder können gar nicht früh genug an deutsche Autofreiheit gewöhnt werden: Da muss also ein Jungbulle  Strafdienst an einer Radarfalle
verrichten – und die ersten, die er schnappt, sind ausgerechnet die Autobahnraser, eine Bande von jungen Kerlen, die illegale Rennen
fahren. Der Polizist schleust sich unerkannt in die Bande ein, vergisst sogleich Ausbildung, Amtseid und Gesetze und
erliegt wehrlos dem Geschwindigkeitsrausch. „Busen, Bullen und Boliden, rasante Action, coole Oneliner und jede Menge Fun - das ist das
Holz, aus dem dieses Bleifußabenteuer geschnitzt ist. Regisseur Michael Keusch und sein Team talentierter Jungstars räumen hier mit
dem Vorurteil auf, man könne in Deutschland kein Turbo-Feuerwerk à la Hollywood zünden. Von diesem hochtourigen PS-Spektakel werden
sich die Kids gerne in die Sofakissen pressen lassen“, schreibt die Videozeitung. Schluss mit dem dummen Gequatsche von Rücksicht,
Vorsicht, Umsicht und jeder anderen Sicht – frischauf, Kameraden, aufs Gas, aufs Gas, nur ab 200 ist der Mann noch was wert!

 

      Wie gesagt: Die deutsche Autobahn – die größte offene Psychiatrie der Welt

     „Ausg’stellt oder niederg’schnellt!“ – Ja, wir waren damals auch im Geschwindigkeitsrausch, in dem ich manchmal, wenn die
Endorphine durchs Gehirn rasten, sogar meine Angst vergessen habe, aber wir blieben in menschlichen Dimensionen.  Wir haben beim Rodeln
keinen in den Tod gejagt, es ist auch nie etwas Ernsthaftes passiert: Hin und wieder haute es einen ins Gebüsch, wenn ein Schlitten
umkippte, und es flogen auch schon mal zwei in den Bach, der neben der Rodelstrecke ins Tal brauste, dann gab es nasse Hosen und
vielleicht ein paar aufgeschürfte Knie oder Ellbogen oder einen verstauchten Finger, aber vor allem viel zu lachen, und auch alle
Winterwanderer blieben unversehrt.

     Und ich? War ich denn nun, wie angekündigt, ein Held?

     Damals gewiss nicht. Und heute? „Du bist kein Held, wenn du die Große Mauer nicht bestiegen hast“, sagen die Chinesen. Ich
habe die Große Mauer bestiegen, wan li chang cheng, die unendlich lange Mauer, letzten Sommer, an einem jener Tage, an denen du das
Gefühl hast in einem Schnellkochtopf zu sitzen, auf den sich gerade der Deckel herabgesenkt hat, und in deinem eigenen Schweiß vor dich hin
zu köcheln. Es gab zwei Aufstiege – einen sanften für Senioren und Gehbehinderte und einen steilen, manchmal fast senkrechten für
unge Menschen, für Sportler, für Leistungsfrohe.

   Welchen sollte ich wählen? Ein geschenkter Sieg macht nicht froh Leistung muss sich wieder lohnen gelobt sei was hart macht ich bin kein WeicheiWarmduscherSchattenparkerNachts-im-Wald-PfeiferSitzkissenmitbringerNicht-neben-der-Freundin-FurzerDiesel-Handschuh-TankerMüsli
-selbst-ZubereiterWackeldackelfahrerKlorollenumhäklerHotelseifensammler – ich bin ein Held, und weil ich ein Held bin, ist mir der Spott der
anderen egal.


     Ich habe die Senioren-Route gewählt.

     Weit bin ich nicht gekommen, denn meine Frau weigerte sich entschieden sich auf die Seite der Senioren zu schlagen, mit denen sie –
vorläufig jedenfalls – nichts gemein habe, und außerdem sei unser Kai längst auf der Leistungsroute und Mutter und Kind dürfe man nicht
trennen und überhaupt solle ich mich nicht so anstellen. Also mutig wieder zurück und den anderen Weg genommen, den steilen Weg der
Tugend, der einem die Schweißtropfen wie Fontänen aus dem Leib schoss - genauer gesagt, aus der Stirn, denn aus einem mir selbst noch
nicht einsichtigen Grund verliere ich das Wasser hauptsächlich über den Kopf. Einmal über das schüttere Haupthaar gestrichen, und schon
stürzt ein Wasserfall herab, der ein mittleres Melonenfeld bewässern könnte, wenn er nicht so salzig wäre. Aber ich bin das steilste Stück
gegangen und ganz oben angekommen und es war auch nicht schlimmer als die einundsiebzig Stufen, die wir früher zu unserer Wohnung
hinaufsteigen mussten.


     Und als ich nun in mir selbst gebadet und in der Tiefenatmung leicht eingeschränkt da oben stand und zusah, wie die Mauer sich rechts
und links von mir in den Horizont wand und Bilder von Mongolenhorden, die vergeblich gegen den Schutzwall anrennen, in meinem inneren
Filmpalast an mir vorbeizogen, da wurde ich durch ein sanftes „excuse me!“ aus einem noch sanfteren chinesischen Frauenmund in die
Wirklichkeit zurückgeholt. Vor mir stand ein chinesisches Ehepaar mit seinem, na, sagen wir, 11 jährigen Sohn, und druckste ein wenig in
bescheidenem, aber doch verständlichem Englisch herum, dass sie doch gerne, please, would you mind if my son – also, die Sache war die:
Sie wollten gerne ein Foto von uns zusammen mit ihrem Sohn machen.

 
     Natürlich haben wir im Geist der traditionellen deutsch-chinesischen Freundschaft zugestimmt und den Kleinen in die Mitte genommen
und uns fotografieren lassen. Zu Hause wird er stolz die Bilder zeigen: Nicht nur, dass er auf der Großen Mauer stand, nein, seht ihr, da
bin ich mit zwei Langnasen, ßißie, thankyouvellymuch, diese Langnasen sind eigentlich ganz normale Menschen so wie wir auch und die
Frau war besonders freundlich.
 

     Im Hotel habe ich heimlich meine Nase im Spiegel betrachtet. Ich finde sie überhaupt nicht lang. Diese Chinesen sind doch merkwürdig.

     Ich bin auf die Große  Mauer gestiegen. Bin ich jetzt ein Held? Was bin ich unter all den Männerrollen, die der Kampf der Geschlechter v
om Mann übrig gelassen hat: Softi, Macho, Chauvi, Neutralo, Macher, Opportunist, Held, Anpasser, Desorientierter, Formalist? Ganz einfach:
Ich weiß es nicht. Ich bin einfach ich.

     Mein Onkel Hermann, Vaters ältester Bruder, der Grübler, der Flieger, der  auf seinem ersten Flug tödlich verunglückt ist, hat die Suche
nach sich selbst in ein kleines Gedicht gefasst:

Ich habe mich so sehr gesucht
und konnte mich nicht fassen.
Ich hätte mich so gern verlor'n
und konnte mich nicht lassen.

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