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DER SPIEGEL 38/1972 - 11. September 1972
URL: http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,111363,00.html

"Ich werde heute noch für Palästina sterben"

Der Überfall auf das olympische Dorf und die Nacht von Fürstenfeldbruck

Der erste Hubschrauber schwebt im Dunkeln ein. Herren mit Schlips und Kragen steigen aus, eilen zum Tower und verschwinden. Kurz darauf, um 22.35 Uhr, diesmal im Flutlicht von Tiefstrahlern, setzen zwei weitere Helikopter auf. 100 Meter entfernt steht eine Boeing 727 mit laufenden Triebwerken.

Amtliche bayrische Darstellung:

Die Hubschrauber wurden durch Polizeibeamte, die als Flughafenpersonal verkleidet waren, eingewiesen. Sie standen ca. 35 Meter von dem Flughafengebäude entfernt. Aus jedem der beiden Hubschrauber stieg zunächst ein Terrorist aus.

Die beiden Terroristen gingen im Abstand von ca. 30 Meter voneinander in Richtung auf die Verkehrsmaschine. Aus jedem der Hubschrauber stieg dann ein weiterer Terrorist aus und bedrohte die ebenfalls ausgestiegene und neben dem Hubschrauber stehende Besatzung mit Maschinenpistolen. Der Raum zwischen den Hubschraubern und der Maschine der Lufthansa war mit drei Lichtgiraffen sehr hell ausgeleuchtet.

Attentat auf israelisches Olympia-Team in München
DPA
GroßbildansichtAttentat auf israelisches Olympia-Team in München
Im Dunkel ringsum, Terroristen im Visier: Scharfschützen der Polizei. Im Kontrolltum, Blick aufs Vorfeld: Bundesminister Hans-Dietrich Genscher, Bayerns Innenminister Bruno Merk und Münchens Polizeipräsident Manfred Schreiber.

Die beiden zuerst ausgestiegenen Terroristen erreichten das Flugzeug, gingen hinein, kamen wieder heraus und bewegten sich in Richtung zurück auf die Hubschrauber. Als sie mehr als die Hälfte des Weges zurückgelegt hatten, eröffneten die Präzisionsschützen der Polizei das Feuer. Zu diesem Zeitpunkt konnte die größtmögliche Zahl von Terroristen ausgeschaltet werden.

Die beiden Bewacher der Hubschrauberbesatzungen fielen sofort getroffen zu Boden. Von den beiden anderen wurde einer erst nach einigen Schüssen getroffen, während es dem anderen, offenbar dem Anführer der Terroristen, gelang, unter dem nächsten Hubschrauber in Deckung zu gehen.

Araber, angeschossen, schreiend, kriechen in Deckung, schießen die Magazine ihrer Maschinenpistolen leer, setzen die Funkanlage des Towers außer Betrieb.

Neben Polizeipräsident Schreiber bricht der Münchner Polizeiobermeister Anton Fliegerbauer, 32, mit tödlichem Kopfschuß zusammen. Ein Hubschrauber-Pilot schleppt sich hinter die Bugräder der Boeing, Helfer schleifen den Schwerverletzten aus dem Schußfeld.

Gegen 22.50 Uhr wurden die Terroristen über Handlautsprecher in deutscher, englischer und arabischer Sprache aufgefordert, die Waffen wegzuwerfen und sich zu ergeben. Inzwischen eingetroffene gepanzerte Fahrzeuge der Polizei erhielten den Auftrag, noch Widerstand leistende Terroristen auszuschalten. Mehr als eine Stunde vergeht.

Angesichts der Aussichtslosigkeit ihrer Lage sprang kurz nach Mitternacht einer der Terroristen aus dem einen Hubschrauber, zündete eine Handgranate, warf sie in den Hubschrauber zurück und versuchte in die Dunkelheit zu entkommen. Dabei wurde er von einem Präzisionsschützen der Polizei tödlich getroffen. Ebenso erging es dem aus seiner Deckung unter dem Hubschrauber hervorbrechenden Anführer der Terroristen. Der Hubschrauber geriet in Brand.

In dem Helikopter sind vier Geiseln. Sanitäter der Bundeswehr versuchen, an den Hubschrauber heranzukommen und werden beschossen - nicht auszumachen, woher. Die Feuerwehr fährt Schaumkanonen auf.

In den Hubschraubern fanden die Beamten der Polizei in einem Hubschrauber fünf tote Geiseln, in dem anderen Hubschrauber vier tote Geiseln.

Um 1.32 Uhr fiel der letzte Schuß. Es war das grausige Finale eines Tages, der nur auf dem Kalender um Mitternacht zu Ende ging. Niemand außer den Beteiligten, den Schießenden, den Beschossenen, den Augenzeugen, wurde zunächst gewahr, was sich ereignet hatte. Die Kunde vom Massaker schien für eine stundenlange Schrecksekunde verschüttet, der Alptraum hatte Sperrfrist - als ob der voraufgegangene Abend noch andauerte:

Jener Abend mit den letzten verzweifelten Hoffnungen, daß die Münchner, die Deutschen, die Olympia-Veranstalter noch einmal davonkommen könnten; mit der beklemmenden Erleichterung, daß dem bösen Anschlag im olympischen Dorf am Morgen (zwei Todesopfer) die erlösende Tat am Abend gefolgt sei, die Befreiung der Geiseln: mit der gedämpften Illusion, daß die heiteren Spiele vielleicht doch noch einen Sinn behalten könnten.

Die meisten Bundesbürger gingen schlafen mit der Zuversicht, die Regierungssprecher Ahlers gegen Mitternacht auf dem Bildschirm ausstrahlte. Im Olympia-Pressezentrum quittierten Hunderte von Journalisten die TV-Nachricht mit Beifall, daß die Geiseln gerettet seien. Olympia-Organisator Willi Daume bekam für die vermeintlich gute Nachricht Applaus im Internationalen Olympischen Komitee (IOC), das zu dieser Stunde im Hotel "Vier Jahreszeiten" darüber beriet, wie Münchens Olympia noch zu retten sei. Das Zweite Deutsche Fernsehen gab mit falschen Nachrichten der falschen Hoffnung Auftrieb - statt totaler Television totale Konfusion.

Diejenigen, die es besser wußten, die Polizisten im Einsatz und die Minister von der Einsatzleitung, fanden zu dieser Stunde in Fürstenfeldbruck weder Telephon (die einzige Leitung vom Tower war tot) noch Worte. Entsetzen war über viele gekommen: über Genscher, Merk und Schreiber. Fassungslos schlug Franz Josef Strauß, der auch dabei war, auf der Treppe des Towers die Hände vors Gesicht.

Die Geiseln waren tot, alle neun, auch ein Polizist. Für die Deutschen, die 1936 hatten vergessen machen wollen, bahnte sich eine "Katastrophe" an (so Bundeskanzler Brandt). Kaputtgeschossen war die Absicht, der Welt ein Fest des Völkerfriedens vorzuführen, und inmitten der geschändeten Idylle stellte sich die Frage: "Muß die Zivilisation, die vom Mondflug bis zum Leben unter Wasser nahezu alles im Griff zu haben glaubt und nahezu nichts mehr für nicht 'machbar' hält, vor einer ihrer elementarsten Aufgaben, nämlich der Gewährung von Sicherheit, kapitulieren?" ("Neue Zürcher Zeitung").

Die wahnhafte Entschlossenheit von acht Terroristen, die Ohnmacht der Staatsmacht, die Fragilität eines Zwei-Milliarden-Festivals - all das, die Weltperspektive, verkürzte sich für die Deutschen auf eine gerade Linie unmittelbaren Versagens.

"Bis heute", so ging das Wort von Israels Innenminister Josef Burg, "meinten wir immer, daß Dachau in der Nähe von München liege. Von nun an liegt München leider in der Nähe von Dachau." Solche Assoziationen boten sich der Welt so selbstverständlich an wie die Deutschen nicht umhin kamen, die Frage nach dem Warum denn nur zu stellen.

War das Desaster zu vermeiden? War es eine Kette von unglücklichen Umständen, eine schiere Addierung von üblem Zufall und einfachen Pannen, die zu einem "erschütternden Dokument deutscher Unfähigkeit" (Brandt) geriet? Oder war das alles unabwendbar, unbeeinflußbar, zumindest kaum noch korrigierbar, was da in den frühen Morgenstunden des 5. September seinen Lauf genommen hatte? "Ein Freischärlerkommando hat gegen fünf Uhr früh den Zaun des Dorfes überstiegen. Die Eindringlinge haben den Wohnblock der israelischen Mannschaft besetzt. Es wurden Schüsse und Rauch gemeldet." So war die Lage, die der Münchner Polizeipsychologe Georg Sieber beschrieb - Ende Februar 1972, als schlimmen Eventualfall im Hinblick auf die Olympischen Sommerspiele. Damals hatte die "Poko Studiengruppe" für politologische Psychologie einen Manöverplan für Olympia zu entwerfen. "Poko"-Chef Georg Sieber, vertraglich als psychologischer Berater der Münchner Polizei wie des Olympia -Organisationskomitees (OK) verpflichtet, konzipierte einen Katalog von Konflikt- und Störsituationen auf dem Oberwiesenfeld und deren Beseitigung - nach polizeilicher Nomenklatur sogenannte "Lagen".

Die Lage 21 beschrieb den Kommando-Raid. "Der Überfall auf Mannschaften von Staaten aus Konfliktgebieten", so die Fall-Studie, "ist für Guerilla- und Widerstandsorganisationen jeder Richtung eine attraktive Chance, sich selbst darzustellen. Lösegelder und andere Vorteile zu erzwingen, den Ablauf der Spiele zu einer politischen Demonstration umzufunktionieren."

Auch Münchens Polizeipräsident Manfred Schreiber, vom bayrischen Innenministerium zum Leiter des gemeinsamen Einsatzes der aus allen Bundesländern zusammengezogenen Sicherheitskräfte bestimmt, dachte damals an politische Störaktionen "von links und von rechts", an "Zusammenstöße zwischen ägyptischen Kommandos mit israelischen Athleten" und an "solche Dinge wie Scharfschützen und Plastikbomberl". Aber angesichts der Devise von den "heiteren Spielen" mochte der Präsident Sicherheit und Ordnung "nicht formal, blind und unflexibel" durchsetzen - und ließ Siebers Psycho-Lage als "zu unrealistisch" ablehnen.

Zwischenfälle, Demonstrationen. Prügeleien, die im Polizeijargon "Kleinstörung" genannte Verwicklung - darauf richteten sich die Olympia -Planer ein. Die Katastrophe durfte nicht sein, mithin war sie nicht konkreter Bestandteil polizeilicher Vorbereitung.

Wie eine düstere Pointe dazu nimmt sich aus, daß die Israelis - so Israels NOK-Generalsekretär Haim Glovinsky nach dem Massaker - "schon Monate vorher das Organisationskomitee um besondere Sicherheitsmaßnahmen gebeten" hatten, "weil wir wußten, daß etwas kommen würde". NOK-Präsident Joseph Inbar beklagte Mitte letzter Woche sogar, seine Mannschaft habe den verlangten Schutz von den deutschen Behörden nicht erhalten.

Der OK-Ordnungsbeauftragte, Münchens Polizeipräsident Manfred Schreiber, sagte, er habe die israelische Mannschaft zwar längst als "Risiko Nummer eins" klassifiziert. Doch erst am 24. August - zwei Tage vor Beginn der Spiele - schickte er seinen Sicherheitsspezialisten Kriminaldirektor Mehner zum israelischen Mannschafts-Attaché Dr. Kranz. Bis dahin hatte Schreiber - "auch das war eine Sicherheitsmaßnahme" - lediglich darauf geachtet, daß "die Ägypter und Israelis im Olympia-Dorf nicht nebeneinander Quartier bezogen".

Das Ergebnis der Diskussion zwischen Kranz und Mehner war eine Inspektion der von den Israelis genutzten Olympia-Einrichtung, eine zusätzliche Ortsbesichtigung durch Staatsschutzbeamte und der Austausch wichtiger Telephonnummern. "Mit diesen Vorkehrungen,", so resümiert Schreiber. "waren die Sicherheitsbedürfnisse beider Seiten voll befriedigt."

Jedenfalls wurden auch dann keine besonderen Sicherheitsvorkehrungen getroffen, als Anzeichen dafür vorlagen, daß arabische Terroristen sich just zur Olympia-Zeit in Mitteleuropa zu einer Unternehmung anschickten. So übermittelte das Bundesverkehrsministerium der Lufthansa-Direktion am 24. August 1972 "folgende Information des Bundesamts für Verfassungsschutz mit der Bitte um weitere Veranlassung":

Nach Informationen, die bei Interpol Brüssel eingegangen sind, planen angeblich arabische Terroristengruppen für den 6. oder 12. 10. 1972 Anschläge gegen ein Flugzeug der Sabena, Strecke Brüssel-London mit dem Umweg über Aden sowie gegen die israelische Fluggesellschaft El Al in Brüssel.

Die Terroristen, bestehend aus drei Gruppen, sollen, am 14. bzw. 30. 9. 1972 aus Rumänien, Österreich und der Bundesrepublik kommend, in London, Amsterdam und Madrid eintreffen, um von dort auf dem Luftweg nach Brüssel zu reisen.

Den Guerilla-Gruppen sollen folgende Personen (Namen phonetisch) angehören: Major Jamil, Abdul Kader Mohamed El Umagnrebi, tunesischer Paß, Jossif Brahim Mohamed, marokkanischer Paß, El Hadam El Wantt Mahanna, marokkanischer Paß, Dia Din Abdullan, marokkanischer Paß, Shamez Faez Massala, tunesischer Paß, Badran Nader Tewfik, tunesischer Paß, als Parole sollen "Welcome" und die Antwort "We have been expecting you since a few days, welcome" sowie eine Schachtel Zigaretten, Marke Golden Star, auf dem Tisch des Flughafen-Restaurants als Erkennungszeichen vereinbart worden sein.

Sechs Tage später, am 30. August, unterrichtete die Lufthansa aufgrund weiterer Informationen des Verfassungsschutzes alle ihre Außenstellen im In- und Ausland über Fernschreiber:

acc info minisr ministry of transport the wellknown pflp/members leila khaled, zaki abd al hadi, darwiza, left bey 29 aug with unknown dest. hijackings of an/or sabotage again a/c must be exp. pls pay spcl. attn.

Übersetzt: Dringende Information des Verkehrsministeriums: Die bekannten Mitglieder der palästinensischen Befreiungsfront Leila Khaled, Zaki/Abd. al Hadi und Darwiza verließen Beirut am 29. August mit unbekanntem Ziel. Mit Hijackings von und/oder Sabotage gegen Flugzeuge (Aircrafts) muß gerechnet werden. Erhöhte Aufmerksamkeit erbeten.

Keineswegs zwingend ergab sich daraus ein Zusammenhang mit den Olympischen Spielen. Aber: Mindestens seit dem 30. August, dem fünften Olympia-Tag, hätte bei allen deutschen und insbesondere bayrischen Behörden, auf Flughäfen und an den Grenzen höchste Aufmerksamkeit herrschen müssen, und zwangsläufig hätten sich verschärfte Kontrollen auch gegen eventuelle Olympia-Terroristen aus arabischen Ländern kehren müssen. Doch die deutlichen Hinweise des Verfassungsschutzes - sie stammten vorwiegend von Interpol - wurden offenbar nicht hinreichend beachtet.

Das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz - so die Auskunft eines hohen Beamten - hatte noch am Wochenende vor dem Überfall im Dorf einen "allgemein gehaltenen Hinweis aus dem orientalischen Bereich über bevorstehende Aktivitäten einer arabischen Gruppe an die Münchner Exekutivorgane übermittelt". Polizeipräsident Schreiber nahm "derlei Papiere" nicht sonderlich ernst, zumal ihm vor der olympischen Eröffnungsfeier acht Bombendrohungen zugegangen waren - "und dann auch nix passierte".

Auf die Frage, ob er zu irgendeinem Zeitpunkt darauf hingewiesen worden sei, daß sich für die Israelis in München ein besonderes Sicherheitsrisiko ergebe, sagte Olympia-Chef Daume letzte Woche: "Innerhalb des Organisationskomitees nicht." Siebers Anregung, sich auf einen Freischärler-Überfall per Planspiel einzurichten, kannte weder er noch sonst jemand im Organisationskomitee. Makulatur blieb Siebers schrecklich exakte Vision dessen, was da kommen könnte: "Es muß mit Kommandos von 'Kamikaz'-Truppen gerechnet werden, die ohne Rücksicht auf eigenes oder fremdes Leben vorgehen."

Der Psychologe hatte, nach der Diskussion seines Papiers im polizeilichen Schulungslager Haimhausen im März dieses Jahres, resigniert auf seinem schriftlichen Konzept notiert, nach Ansicht von Polizei-Experten sollten lieber "fünf Lagen für Kleinstörungen" ausgearbeitet werden.

Statt der Apokalypse der Lage 21 gelangten in die offizielle "Schulungs- und Informationsmappe für Führungskräfte des Ordnungsdienstes" (Herausgeber: der Ordnungsbeauftragte des Organisationskomitees für die Spiele, Manfred Schreiber) denn auch simple Spielstörungen wie Belagerung des Olympia-Bergs durch Jungvolk, Handgreiflichkeiten unter Zuschauern, Mißbrauch von Eintrittskarten und Berechtigungsplaketten oder exhibitionistische Störungen.

Eins der zehn Schulbeispiele - nicht das harmloseste -, an denen die Olympia-Ordner vor den Spielen trainiert wurden, liest sich so: "1.30 Uhr: Auf dem kleinen Platz in der Mitte der Bungalowsiedlung des Frauendorfes hat sich eine Gruppe von zehn Athletinnen und zwei Athleten auf mitgebrachten Decken und Kissen niedergelassen. Ein Athlet spielt auf der Gitarre. Die Frauen singen mit und begleiten den Spieler mit rhythmischem Händeklatschen. Weinflaschen machen die Runde. Der zweite Athlet ist offenbar stark angetrunken ... 1.45 Uhr: Bei dem Versuch, die Herren aus dem Frauendorf zu verweisen, wird ein Mitarbeiter durch den angetrunkenen, wild um sich schlagenden Mann erheblich am Kopf verletzt."

Mit Konflikten dieser Qualität wurden in der olympischen Wirklichkeit die "Mitarbeiter O" dann auch fertig - die 2070 Beamten und 30 Beamtinnen, die aus dem Bundesgrenzschutz und regionalen Polizeien aus der ganzen Bundesrepublik aufs Oberwiesenfeld beordert worden waren.

Von den auf Heiterkeit bedachten Olympia-Organisatoren in hellblaue Courrèges-Anzüge im Safari-Look gekleidet und statt mit Waffen mit Psycho-Devisen wie "certo et cito" (bestimmt und geschwind) ausgerüstet, nahmen die Gast-Polizisten auch rechtlich, so ein Olympia-Sprecher, "eine Zwitterstellung" ein: Um während der Spiele lediglich für ein "Minimum an Ordnung" (Schreiber) sorgen und bei geringfügigen Straftaten auch einmal ein Auge zudrücken zu dürfen, wurden sie per Beurlaubung ihres Polizeistatus enthoben und damit vom Legalitätsprinzip entbunden; für die Olympia-Zeit galten sie als Handlungsgehilfen eines Vereins des bürgerlichen Rechts (des Organisationskomitees) mit hausrechtlichen Befugnissen - "so etwa wie Ordner auf dem Oktoberfest" (Ordnungsreferent Hermann Wöhrle, Polizeirat aus Hamburg).

Während die reguläre Polizei - 4000 einheimische Beamte sowie 4000 Kollegen aus anderen Bundesländern - überwiegend außerhalb des Geländes in Reserve stand, bewältigten die Safari-Ordner, vor allem Polizeisportler, spielend die erste Olympia-Halbzeit.

Das Spätsommerwetter, die Architektur, die Spielstraße und der von Bandleader Edelhagen fröhlich eingestimmte Sportsgeist erzeugten eine legere Atmosphäre, und das Publikum verlieh der programmierten Heiterkeit ein natürliches Flair von Unbeschwertheit. Die Courrèges-Ordner, laut Schreiber "vornehmlich unter sportpolitischen Gesichtspunkten ausgewählt" (in der Boxhalle wachten Amateur-Boxer, im Stadion Leichtathleten), hatten nur selten etwas zu ordnen. Nach dem Riesensprung der Heide Rosendahl etwa schützten sie deren schärfste Konkurrentin durch Aufmarsch im Kameragraben - unnötigerweise: Gold-Heide blieb unbesiegt und das Publikum gelassen.

Zu handfesten Auseinandersetzungen kam es selten; und am widerspenstigsten zeigten sich individualistische Franzosen, wenn die Ordner ihre Spezialgriffe anwenden wollten. Neben dem Handzeichen-Kode (erhobener Finger - ich brauche Hilfe; wedeln mit flachen Händen - nicht aufregen) hatten die Ordner in ihren vorolympischen Kursen gelernt, binnen Sekunden dichte Menschenpulks zu durchmessen.

"Wie bei einer Polonaise", so erinnerte sich einer der Ordnungsschüler an die Exerzierübungen in der Bayernkaserne nahe dem Oberwiesenfeld, "mußten wir uns mit Geschick und Ellenbogen durch ganze Hundertschaften durchschlängeln."

Auch ihr psychologisches Lehrgut konnten die "Olys" (Polizeijargon für Olympia-Ordner) auf dem Oberwiesenfeld gelegentlich verwerten. Als maoistische Demonstranten eine Woche nach der Spiele-Eröffnung eine Anti- Olympia-Kampagne inszenieren wollten, keilten sie sich in der Münchner Innenstadt alsbald mit ortsfremden Polizisten, denen die von Schreiber schon vor Jahren entwickelte "Münchner Linie" nicht geläufig war.

Einen Tag später zogen 200 der Demonstranten auf das durch eine olympische Bannmeile geschützte Oberwiesenfeld - und wurden dort von psychologisch trainierten Münchner Olys mit Bonbons empfangen. Eine 15köpfige Spezialtruppe aus Ringern und Judokas, allen voran der Münchner Wachtmeister Rudolf Mayer, löste den Mao -Trupp derart geräuschlos auf, daß nicht einmal die Lokal-Presse davon Kenntnis bekam.

Mayers Leute, die sich von den übrigen Olys durch einheitliches Schuhwerk (Marke Adidas) abheben, waren für Zwischenfälle aller Art gedrillt. Ihr Arsenal, im Zimmer 1071 unter den Stadiontribünen verstaut, hatten sie freilich nie benötigt: einen grünen Schubkarren mit Blaulicht und Martinshorn, mit dem sie auf heitere Art passives Demonstrantengut abtransportieren, schwarze Hüte mit roten Riesenfedern, mit denen sie Krisensituationen entspannen sollten, sowie überdimensionale Blumensträuße, gedacht als Dämpfungsgabe für aggressive Störer.

Die Probleme, die die Olys dennoch mit sich herumschleppten, waren nach außen hin nicht sichtbar - sie waren truppeninterner Natur. Da Manfred Schreiber neben seinem Alltagsamt als Polizeipräsident von München während der Spiele auch noch der innenministeriell ernannte "Leiter des gemeinsamen Einsatzes" für ganz Oberbayern war, mußte er sein Amt als Ordnungsbeauftragter des Organisationskomitees zuweilen vom Hubschrauber über dem spätsommerlich verklärten Chiemsee ausüben. Bei seinen Stellvertretern in den ehemaligen Baracken der Olympia -Baugesellschaft - dem Kriminaldirektor Reinhard Rupprecht aus seinem eigenen Haus sowie dem aus Hamburg delegierten Polizeirat Hermann Wöhrle - meldete sich der Multi-Polizist dann per Funk: "Was habt's denn scho wieda?"

Derweil kamen die Leiter des Ordnungsdienstes (OL) mit den Leitern des Stabes (OLST) ins Gehege - dem aus Baden-Württemberg entliehenen Polizeioberrat Rathgeb (nebenher Vorsitzender des Stuttgarter Polizeisportvereins) und den beiden vom Bundesgrenzschutz geborgten Offizieren Korsch und Wolfrum.

Allzu freizügig und selbständig hatten die Dienstleiter wie die Stabsführer zuweilen über die Ordnerreserven der drei Olympia-Park-Abschnitte Nord, Mitte und Süd disponiert und auch ungeniert auf die über 100 Mann starke Gesamtreserve zurückgegriffen. OL schickte beispielsweise Reservisten vom Abschnitt Süd (Jugendlager, Spielstraße) in den Abschnitt Nord (olympisches Dorf, Hockeyanlage, Marathonstrecke); der Abschnittsleiter Süd griff dann notgedrungen auf die Gesamtreserve zurück, und OLST wunderte sich, daß die 100-Mann-Reserve immer kleiner wurde. "Am Ende", so ein Mann aus der Baracke am Montag letzter Woche, "wußten wir oft gar nicht mehr, wo die Leute gerade stehen."

In der Baracke nebenan hauste derweil die richtige Polizei, das eigens für Olympia eingerichtete Zusatzrevier unter Leitung von Polizeidirektor Krack. Der Direktor, soeben von einem fünfjährigen Entwicklungshilfeauftrag aus Ruanda in Afrika zurückgekehrt, befehligte 150 Mann, die in der Hauptsache den Verkehr rund ums Olympiagelände lenken, sowie am Geländerand eine Wache S mit vier Schutzpolizisten und zwei Wachen K mit acht Kriminalern.

Die bewaffnete Macht von Krack, der in normalen Zeiten Schreibers Präsidialabteilung leitet, durfte das Olympiagelände nur auf Amtshilfeersuchen des Ordnungsdienstes betreten. Der mit Walther-PKK-Pistolen bewaffnete Objektschutz, der Tag und Nacht 34 neuralgische Punkte auf dem Olympiagelände beschützt - von den Pylonen des Riesendachs bis zu den Computeranlagen unter den Stadiontribünen -, unterstand vielmehr Wöhrles Hoheit.

Das olympische Dorf, Wohnbereich der Athleten aus aller Welt, war für Kracks Scharen ganz und gar exterritoriales Gebiet: "Das ist für uns tabu." Und nachts reduzierte der Polizeidirektor seine Mannschaft auf ein Minimum: "Wir sind nachts nicht oder nur schwach besetzt", denn "in der Nacht passiert ja nix".

So schien die Nacht zum Dienstag letzter Woche eine Nacht wie jede andere. Um den olympischen Dorfzaun zirkulierten zwei Streifen, die eine im Uhrzeigersinn, die andere andersherum. Eine der Patrouillen notierte, ohne etwas zu unternehmen, eine Wahrnehmung ins Wachbuch: Morgens gegen vier Uhr hatten sie auf dem Damm zwischen DOZ und Dorf einen jungen Mann mit weißem Hut und Safari-Anzug gesichtet.

Die Doppelstreifen auf den Dorfstraßen und die Wächter an den vier (von insgesamt 13) Eingängen, die auch nachts geöffnet blieben, machten keine besonderen Beobachtungen. Der Rest der 58 Ordnungsleute, die in Schichten Tag und Nacht das Dorf bewachten, hielt sich als Einsatzreserve im ersten Stock des Verwaltungsgebäudes G 1 auf.

Als diese Nacht zur Neige ging, zerbrach das Sicherheitskonzept für die heiteren Spiele. Mit Courrèges ließ sich nicht verhindern, was da geschah. Das aus Freundlichkeit geknüpfte Ordner- und Polizeinetz, zumal mit Webfehlern in Einsatzstruktur und Praxis, konnte das Ungeheuerliche nicht abfangen. "Wenn man das hätte verhindern, wollen", meint Münchens Justizsprecher Dr. Peter Metzger, "hätte man statt eines olympischen Dorfes ein Sing-Sing bauen müssen."

Kein Zweifel zumindest, daß eine auf Terroristen-Überfälle eingerichtete Ordnungs-Organisation nicht mehr der Wunschvorstellung gerecht geworden wäre, daß - so Schreibers Einsatzverfügung - "von der perfekten Abwicklung der Wettkämpfe und von den ungestörten und wohlgeordneten Verhältnissen im Olympiapark, in den Sportstätten und den übrigen Veranstaltungsorten ein bedeutender Einfluß auf die internationale öffentliche Meinung ausgeht, der ohne Zweifel zur Festigung des Prestiges unseres Landes beiträgt". Doch dann ging es nicht mehr um die perfekte Abwicklung der Spiele, es ging um Leben und Tod.

Um 4.55 Uhr schrillte bei Grenzschutz-Major Wolfrum im Polizeiführungsstab am Willi-Gebhardt-Ufer 32 das Telephon: "Es wird geschossen!" Minuten später erreichten Beamte der Kripo-Wache des olympischen Dorfes und der Bereichsleiter des Ordnungsdienstes den Tatort: Haus 31 in der Connollystraße, das Quartier der Israelis. Vorm Eingang winkte jemand die Beamten heran - ein Mann mit weißem Hut, geschwärztem Gesicht und Sonnenbrille, Handgranaten in den Brusttaschen und eine in der rechten Hand, den Daumen in der Abzugsschlaufe.

Dann verschwand er rückwärts gehend ins Haus und schlug die Tür zu. Von einem Balkon im ersten Stock wehte ein Papier auf die Straße. "Lassen Sie das sofort der israelischen Regierung zukommen", befahl der Mann nun von oben herab und machte den Ernst der Lage klar: "Hier ist etwas passiert, sorgen Sie dafür, daß Erste Hilfe kommt."

Zum erstenmal an diesem schwarzen Septembertag war nichts mehr zu helfen. Der Arzt fand einen Toten vor der Tür: Mosche Weinberg, Trainer der Ringer, von Kugeln durchsiebt.

Um diese Stunde wurde in seinem Büro auch OK-Chef Willi Daume aufgeschreckt. Nur "Pullover über, Hose an", hastete er von der Saarstraße am Olympia-Park hinüber ins olympische Dorf.

In Zimmer 431 seines Hotels "Continental" in der Münchner Innenstadt läutete der Alarm den Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher aus dem Schlaf. Per Sonderleitung übermittelte er erst Willy Brandt, dann Walter Scheel, beide zu Hause in Bonn, die Botschaft, bevor auch er ins Männerdorf abfuhr.

Dort setzten sie sich verstört um den Tisch - Daume, Genscher, Merk, Ministerpräsident Goppel, Münchens Oberbürgermeister Kronawitter, sein Amtsvorgänger Vogel, Polizeipräsident Schreiber; der nordrhein-westfälische Innenminister Willi Weyer war als OK -Mitglied dabei, bald auch Avery Brundage vom IOC.

Die Lage: Acht schwerbewaffnete arabische Freischärler halten die israelische Unterkunft besetzt, zwei Israelis sind erschossen und neun andere, die sich ebenfalls nicht mehr haben retten können, mit fingerdicken Stricken an Händen und Füßen gefesselt. Die Forderung der Terroristen: Bis neun Uhr müsse der Staat Israel 200 namentlich aufgeführte arabische Häftlinge freilassen, andernfalls würden die Geiseln liquidiert.

Eine Stunde und 40 Minuten nur bleibt den Versammelten bis zum Ablauf dieses Ultimatums, das den heiteren Spielen den Sinn nehmen sollte. Hals über Kopf werden in der nahen Bayernkaserne Bereitschaftstrupps des Ordnungsdienstes in Marsch gesetzt, Polizei und Bundesgrenzschutz umzingeln das olympische Dorf, alle Funkgeräte werden auf Sonderkanal geschaltet, die Connollystraße wird abgeriegelt. Die DDR-Sportler im Gebäude gegenüber der israelischen Unterkunft haben sich in die hinteren Räume ihres Quartiers zurückgezogen.

Kurz nach acht erhält der Polizeiführungsstab Weisung, "die Befreiung der Geiseln einsatztaktisch vorzubereiten" - Scharfschützen sind schon unterwegs.

- Auf Verlangen der Terroristen ist vor Haus 31 erst eine, dann noch eine Frau postiert worden - beide Kriminalbeamtinnen, die sich freiwillig gemeldet haben und fortan über Sprechfunk den Kontakt zwischen Einsatzleitung und Freischärlern halten. Ihnen ist Unversehrtheit zugesichert worden.

Sie machen Dienst auf blutiger Szene. Flur und Treppenhaus sind rot besudelt, zu Füßen der gefesselten Geiseln, je drei auf drei Feldbetten im selben Raum, liegt die Leiche des zweiten Ermordeten. Das Laken, das ihn zudeckt, ist blutgetränkt. In den Ecken links und rechts vom Fenster stehen zwei Araber, ihre Maschinenpistolen schußbereit im Anschlag.

Es schien kein Zweifel angebracht: Die Mörder waren zum Massaker entschlossen, wenn die Leute auf der Liste nicht freikämen - und vielleicht selbst dann. Doch eine Antwort auf die Pression im Dorf mußte aus Israel kommen. Vor Ort konnte die Maxime zunächst nur lauten: Zeit gewinnen.

Kurz vor Ablauf der Neun-Uhr-Frist ging Polizeipräsident Schreiber zum Haus 31 und verhandelte mit dem Terroristen-Chef über einen Aufschub. Nur einen Moment lang überlegte Schreiber: "Wenn ich ihn mir als Geisel nehme und mich dann mit ihm zurückziehe, wird die Situation verbessert." Der Araber muß gespürt haben, daß Schreiber ihn taxierte: "Wollen Sie mich beschreiben", fragte er wie beiläufig, "oder wollen Sie mich mitnehmen?" - und zeigte die Handgranate in seiner rechten Hand.

Der Mann machte keine Konzessionen. Er lehnte Ersatzgeiseln ab, wollte kein freies Geleit, kein Lösegeld in unbegrenzter Höhe, und er wies auch das Ansinnen zurück, die Geiseln bis auf eine freizulassen. Schreiber: "Er sagte, er will seine 200 Freunde, nichts anderes." Einziges Zugeständnis: Fristverlängerung bis 12 Uhr mittags.

Im Park von Nymphenburg vollführte die Dressurreiterin Liselott Linsenhoff noch ihre Pirouetten (ZDF-Kommentar: "Ein wenig mehr Schwung wäre vonnöten"), auf der Regattastrekke in Feldmoching trugen die Kanuten ihre Vorläufe aus, und auf dem Messegelände rang man griechisch-römisch, wie es geplant war.

Doch das Programm des Tages lautete längst anders. Im Bonner Kanzleramt beriet die "Kleine Lage" über die "furchtbare Geschichte", so ein Teilnehmer. Aus dem Palais Schaumburg telephonierte AA-Staatssekretär Paul Frank mit Israel-Botschafter Ben-Horin und stellte ihm ein Sonderflugzeug nach München zur Verfügung. Auch Bundeskanzler Willy Brandt machte sich reisefertig.

Außenminister Scheel übernahm die Leitung des Bonner Krisenstabes. Ihm wurde von Ben-Horin als erstem klargemacht, daß Israel schwerlich von seinem Grundsatz abweichen werde, Gefangene auf keinen Fall freizugeben, unter welchen Umständen auch immer. Daß es so war, bestätigte auch Botschafter Jesco von Puttkamer, den Scheel zur Ministerpräsidentin Golda Meir nach Jerusalem geschickt hatte.

Scheels erste Direktive ging an seinen Staatssekretär Sigismund von Braun, der bereits im Münchner Krisenstab saß. Sie lautete, alles zu unterlassen, was Ressentiments im Ausland auslösen könnte, und bei den anstehenden Verhandlungen auf internationale Solidarität hinzuwirken. Deshalb auch wurde als einer der ersten UNO- Generalsekretär Kurt Waldheim benachrichtigt, der sogleich einen Vertreter, den Argentinier Goyer, nach München beorderte.

Als Unterhändler für München boten sich bei Scheel der Bonner Vertreter der Arabischen Liga, Chatib, und der tunesische Botschafter an. Der Außenminister telephonierte mit dem libyschen Botschafter, der von seiner Regierung angewiesen worden war, sich als Vermittler zur Verfügung zu stellen.

Doch: Zu vermitteln, so wurde im Laufe des Tages immer deutlicher, gab es in München kaum etwas. So unerbittlich Israel sich weigerte, politische Gefangene herzugeben, so starr beharrten die Araber auf ihrer einmal erhobenen Forderung. Wer immer vor Haus 31 auf den Mann mit der Sonnenbrille einredete - mehr als kurze Fristenverlängerung kam nie heraus.

Von zwölf auf ein Uhr schaffte es Schreiber in Begleitung des Abgesandten der Arabischen Liga und des Missionschefs des ägyptischen Teams. Von eins auf drei konnten Genscher und Merk die Freischärler hinhalten, zusammen mit Schreiber erwirkten sie schließlich Aufschub bis fünf.

Und ob es zwölf oder eins oder drei war - jedesmal drohten die Araber, zum jeweils nächsten Termin mindestens zwei Geiseln "zur Probe" vor aller Augen zu erschießen. Ob Genscher, Merk oder Schreiber sich einzeln oder gemeinsam als Geiseln anboten, ob Genscher sich nach etwaigen Forderungen an die Bundesregierung erkundigte, die erfüllt werden könnten, nichts verschlug: "Sie wollen doch nur, daß wir müde werden", durchschaute der Anführer die Hinhaltetaktik.

Tatsächlich versuchte die Polizei den Zeitgewinn zu nutzen, um die gewaltsame Befreiung der Geiseln vorzubereiten. Auf Dächern und Balkonen wurden Scharfschützen postiert, zwölf Sturmtrupps zu je drei Freiwilligen - teils durch Trainingsanzüge als Sportler getarnt - bezogen vermeintlich günstige Angriffspositionen: sechs Mann im Keller, 21 im Parterre, neun im Geschoß über den Israelis. Die sollten nach den ersten gezielten Schüssen die Türen aufsprengen und durch die verschlossenen Fenster in die Wohnung springen.

Details über die Gegebenheiten im Inneren des Hauses sollte der Leiter des Sturmkommandos zusammen mit dem Beamten erkunden, der auf den Hauseingang angesetzt war. Als Köche verkleidet, brachten sie Gangstern wie Geiseln mehrere Kisten mit Verpflegung. Doch der Anführer durchschaute auch diesen Trick: Die Köche mußten das Essen vor dem Haus abstellen, dann trug er die Kisten selber hinein.

Der Einsatz von Betäubungsgas wurde verworfen. Ein Chemiker und ein Belüftungstechniker des Bayerischen Landeskriminalamtes waren sicher, daß chemische Mittel anzuwenden hier keinen Sinn habe: Gas, so wissen Experten, wirkt selten so schlagartig, daß alle Zielpersonen zur selben Zeit ohnmächtig werden; hat der Täter eine bessere Konstitution als sein Opfer, so kann er in letzter Sekunde immer noch schießen. Elektronenblitze, um die Täter vor dem schnellen Zugriff kurzfristig zu blenden, wurden gar nicht erst erwogen.

Auch die kriminalistische Grundregel bei jeder Geiselnahme, ein so präzises Bild von der Persönlichkeit des Täters zu gewinnen, daß seine Reaktionen auf polizeiliches Vorgehen berechenbar werden, eröffnete keine Perspektive zum Handeln: Die Regel hilft zwar weiter bei Lösegelderpressern, nicht aber bei politischen Fanatikern, die kein Harakiri scheuen.

"Ich werde heute noch für Palästina sterben", wußte der Bandenchef im Olympia-Dorf. Als Bundesinnenminister Genscher ihm vorhielt, die Geiseln seien doch unschuldige Menschen, gab er nur die Antwort: "Ich bin Soldat, wir sind im Krieg. Sie müssen wissen, daß ich den Tod nicht scheue." Genscher: "Das war das Problem."

Dennoch erging um 16.30 Uhr der Befehl an die Polizei, nunmehr die Sturmpositionen einzunehmen - und die Palästinenser vernahmen ihn auch.

Als Genscher, Merk und Schreiber zur selben Zeit abermals zur Unterredung kamen, teilte der Anführer ihnen mit: "Wir haben gerade im Radio gehört, daß die Polizei uns überfallen will." Prompt forderte er nun Abflug nach Kairo mit den Geiseln.

Genscher bat, darüber erst einmal mit den Geiseln reden zu dürfen - und wurde in die Wohnung eingelassen. Die Geiseln saßen noch immer gefesselt auf den Feldbetten, noch immer lag der Tote am Boden, und wieder standen in den Ecken bewaffnete Bewacher. Die gefangenen Israelis waren mit dem Kairo-Flug unter der Bedingung einverstanden, daß vor dem Abflug die Zustimmung ihrer Regierung zur Auslieferung der 200 Häftlinge vorliege.

Eine Gewißheit nahm Genscher gleich aus dem Hause mit: daß ein Sturmangriff auch für die Geiseln tödlich enden müßte. Die zweite Gewißheit erhielt er nach Rücksprache mit dem israelischen Botschafter: Es bleibt beim Nein; Gefangene werden nicht freigelassen.

Nun schaltete sich Willy Brandt ein: Über zwei Stunden lang wartete der Bundeskanzler auf Telephonverbindung mit dem ägyptischen Staatschef Sadat, um mit ihm die neue Lage zu erörtern. Erst um 20.20 Uhr bekam Brandt, der in Robert Lembkes Zimmer im Olympia-Zentrum DOZ saß, Verbindung mit Kairo. Doch Sadat war auch dann nicht am Apparat, und der Kanzler ließ sich nun zu Ministerpräsident Sidki durchstellen.

Die Zeit drängte. Inzwischen hatten die Guerrilleros im olympischen Dorf eine allerletzte Frist eingeräumt: Punkt 21 Uhr, wenn bis dahin der Abflug nicht arrangiert sei, wäre Deadline für alle. Auf englisch schilderte Brandt dem Premier in Kairo die Situation und bat um Landeerlaubnis - freilich nur wenn das Überleben der Geiseln garantiert werde. Sidki bedauerte. Es tue ihm leid, seine Regierung sei außerstande, sich in eine Angelegenheit einzumischen, die sie nichts angeht. Wörtlich: "We do not want to get involved." Damit war entschieden, daß es keinen Flug nach Kairo geben würde. Die Terroristen hatten allerdings wissen lassen, daß sie sich ja während des Fluges auch nach Landemöglichkeiten in anderen Ländern per Funk erkundigen könnten. Die deutschen Behörden gingen davon aus, daß dies, wohin auch immer die Reise gehen würde, den sicheren Tod der Geiseln bedeutet hätte.

Wahrscheinlich war es, sicher nicht. Denn solange die Araber ihr erklärtes Ziel verfolgt hätten, ihre gefangenen Genossen aus Israel freizubekommen, so lange wären die Geiseln nur als lebendes Faustpfand wertvoll gewesen. Da aber die Israelis sich unnachgiebig gezeigt hatten und ihre Gefangenen keineswegs freigeben wollten, konnten aus deutscher Sicht die Geiseln praktisch nicht entlassen werden.

Der gewaltsame Zugriff schien der letzte Ausweg.

Zwei Möglichkeiten sah die Polizei, die Chance zu nutzen, die sich durch die Bereitschaft der Täter bot, ihre Festung zusammen mit den Opfern zu verlassen. Entweder konnten die Entführer im sogenannten Basement, dem unterirdischen Straßensystem des Olympiadorfs, ausgeschaltet werden, wenn sie zu dem Hubschrauber gingen, der sie zur bereitgestellten Lufthansa-Boeing auf dem Militärflughafen Fürstenfeldbruck - gegen diesen Startplatz hatten die Araber keine Bedenken - bringen sollte, oder auf dem Flughafen selbst.

Zur Lösung 1 versteckten sich Polizeischützen im Basement-Geschoß, um möglichst alle Araber auf einen Schlag niederzustrecken. Der Plan schlug fehl. Gemeinsam mit Genscher - Schreiber zehn Meter vorweg und seinen schußbereiten, hinter Pfeilern versteckten Beamten zurufend: "Dies ist ein Probegang, dies ist ein Probegang" - unternahm der Anführer eine Ortsinspektion durchs Basement nach draußen, ließ sich vorher die Begehungszeit sagen und befahl seinen Leuten: "Wenn ich in drei Minuten nicht zurück bin, erschießt ihr die Geiseln."

Weil die Tiefstraße befahrbar war und ihm Fahren sicherer erschien als Gehen, befahl der Terrorist einen Bus herbei, schickte den ersten zurück und bestellte - "in fünf Minuten" einen größeren.

Um 22.06 Uhr setzt sich der Bus mit den Attentätern und ihren Gefangenen zu den beiden inzwischen bereitgestellten Hubschraubern in Bewegung. Zum erstenmal kann richtig gezählt werden: acht schwerbewaffnete Täter, neun Geiseln.

Um 22.22 Uhr heben die Helikopter vom olympischen Boden ab, der Flug ins Desaster beginnt.

Im dritten Helikopter, in dem sich Chef-Polizist Schreiber und die Minister Merk und Genscher festschnallten, herrschte eine Stimmung wie im Operationssaal, wenn der Patient verblutet. Schreiber: "Wir fühlten uns in der Rolle von Ärzten, die einen Toten zum Leben erwecken müssen." Längst stand für ihn die "Diagnose hoffnungslos" fest, denn, so Schreiber, ein "Enderfolg konnte wegen der Ausgangslage mit 99 Prozent nicht eintreten".

Die Ausgangslage - mit arabischen Terror-Profis, die sich nie zusammen, sondern nur einzeln und dann noch mit Geiseln zeigten, mit der Unnachgiebigkeit des Staates Israel, der es sich nicht leisten will, Erpressern nachzugeben - ließ der deutschen Polizei nur eine minimale Chance von eben einem Prozent.

Sie bestand darin, mit maximalem Aufwand, technischer Perfektion und einem "Quentchen Fortüne" (Merk) zu "retten, was irgend zu retten war" (Schreiber). Und das Quentchen Glück schien sich in Fürstenfeldbruck wirklich einzustellen: Zum erstenmal gerieten gleich vier Terroristen (Schreiber: "Das absolute Optimum") zusammen ins Visier der Präzisionsschützen, darunter sogar der Anführer. Die restlichen vier, so spekulierte Minister Merk, sollte der Schock treffen.

Doch das bißchen Glück wurde vertan. Für die acht Terroristen standen nur fünf Polizei-Schützen bereit. Sie zielten so schlecht, daß Bundeswehrsoldaten im Tower, die bei diesem Gefecht nur Publikum waren, um ihr Leben bangten. "Nur weg, nichts wie weg von hier", rief ein Offizier, "sonst erschießen uns noch unsere eigenen Leute."

Es waren keine Extra-Scheinwerfer da - für den Fall, daß das Licht ausging. Es waren keine Infra-Nachtsichtgläser beschafft worden, damit bei Dunkelheit besser hätte gezielt werden können. Die Einsatzleitung hatte keine Übersicht über den Verlauf der Aktion - was zur Folge hatte, daß aberwitzige Erfolgsversionen nach München drangen. Vor allem aber war verabsäumt worden, so viele Scharfschützen zusammenzuziehen, daß die geringe Chance optimal genutzt werden konnte.

Verstärkung traf erst ein, als alles vorbei war. Ihr blieb nur noch übrig, die drei überlebenden Attentäter aufzuheben, die sich zu Boden geworfen und totgestellt hatten.

Und es haperte vorn und hinten: Obschon der Münchner Krisenstab das Gelände Stunden zuvor inspiziert hatte, landeten die Hubschrauber nur 35 Meter vom Kontrollturm entfernt - in dem sich der gesamte Einsatzstab befand. 400 Meter weiter parkte eine vollaufgetankte vierstrahlige Düsenmaschine der "Finn Air". Nicht viel weiter standen Kesselwagen, gefüllt mit 400 000 Liter Kerosin.

In diese brisante Umgebung brachten der Fürstenfeldbrucker Einsatzleiter, Polizeivizepräsident Georg Wolf, und sein Kommandostab einschlägige Erfahrungen mit. "Es war", so ein Mitglied des Gremiums, "fast exakt die gleiche Zusammensetzung wie damals bei der Prinzregentenstraße."

In der Prinzregentenstraße hatte die Münchner Polizei ziemlich genau ein Jahr zuvor ihren ersten Raubüberfall mit erpresserischer Geiselnahme zu bewältigen. Damals hatten zwei Gangster eine Filiale der Deutschen Bank überfallen, Bankangestellte wie Kunden zu Geiseln erklärt und zwei Millionen Mark Lösegeld gefordert. Beim Versuch, den Fall mit Präzisionsschützen zu lösen, starben ein Räuber und eine Geisel.

Die Parallele zur Prinzregentenstraße war der olympischen Runde, die - so ein Teilnehmer - "für das Polizeihandwerkliche zuständig war", durchaus gegenwärtig. Ihre Vorschläge glichen freilich denen von damals bis ins Detail:

Vor der Deutschen Bank hatte man einen BMW mit laufendem Motor als Fluchtauto bereitgestellt - nun wurde eine Lufthansa-Boeing 727 mit heulenden Triebwerken auf dem Flugfeld postiert. Den Flucht-BMW hatte man durch Demontage eines Zündkabels präpariert und der Aktionsradius der Boeing war dadurch beengt, daß nur 5000 Liter Treibstoff (für 400 Kilometer) in die Tanks gefüllt waren. Der Abgeordnete Franz Josef Strauß hatte damals den Schießeinsatz kommentiert ("Da hat's patscht")  - er war auch auf dem Rollfeld wieder dabei. Und so wie diesmal der Schauplatz in Fürstenfeldbruck durch Licht-Giraffen ausgeleuchtet war (Schreiber-Berater Genscher: "Es war richtig hell"), empfand auch der damalige Einsatzleiter, Oberstaatsanwalt Erich Sechser, die Szene als "abgeräumt und sauber".

Die Staatsanwaltschaft freilich, der Schreiber damals die Verantwortung überließ, hatte "aus der Prinzregentenstraße gewisse Lehren gezogen". Zwar war auch im Olympia-Dorf Behördenleiter Herbert Fendt vorsorglich am Tatort, aber, so Justizsprecher Dr. Peter Metzger: "Wir wollten nicht in die Polizeimaßnahmen eingreifen, zumal dieses Mal eine Etage höher verhandelt wurde."

Schreiber, der das Verfahren diesmal nicht an forsche Staatsanwälte abtreten konnte, war, so schien es, froh, daß ihm diesmal starke Politiker an die Seite traten. Der Polizeipräsident, der sich vor den Spielen "die Verantwortung für das polizeiliche Geschehen" aufgeladen hatte, nach dem Desaster in Fürstenfeldbruck: "Solche Top-Entscheidungen können nur von Top-Leuten entschieden werden", nicht von simplen "Ortspolizisten" wie ihm.

In derart diffuser Kompetenzlage zog sich die Parallele zur Prinzregentenstraße bis ans bittere Ende. Der Chef des israelischen Geheimdienstes, der gleich nach der Geiselnahme aus Tel Aviv eingeflogen war, erlebte es mit. Er war im olympischen Dorf dabei und in Fürstenfeldbruck.

Als die Münchner Krisenstäbler schon für alles wieder eine Erklärung hatten oder sich nicht recht erinnern konnten, legte der Israeli - er hatte im Mai 1972 in Tel Aviv einen gekaperten Sabena-Jet im Handstreich befreit - zu Hause bereits einen Bericht über das Geschehen in München vor. Der Fachmann über die Kollegen in Westdeutschland: "Ausgesprochener Dilettantismus."
 

© DER SPIEGEL 38/1972