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Ordentlich Hysterie in den Tank
Von der besten zur bestbezahlten Rockband der Welt: Heute vor vierzig Jahren begann in London die Karriere der "Rolling Stones"
Irgendwo in London stand ein Küchenfenster einen Spalt offen. Damit die Katzen hinaus konnten. Und die Musiker herein. Die Besitzer von Küche und Fenster   hießen Big 8 Broonzy, Muddy Waters oder T-Bone Walker. Wie die Katzen hießen, ist nicht überliefert. Dafür erfahren wir, dass Alexis Korners Vater ein ehemaliger K&K-Offizier in Diensten des britischen Geheimdienstes war, was es mit dem Sinowjew-Brief auf sich hatte und dass Alexis Korner während Lonnie Donnegans Militärzeit in Chris Barbers Band Banjo spielen durfte.
Zwanzig Meilen entfernt, in der Grafschaft Kent, stand derweil ein Junge in kastanienbrauner Schuluniform vor dem Radio und erfand spanisch klingende Nonsens-Reime zur südamerikanisch angehauchten Schlagermusik, die seine Mutter beim Großreinemachen so gern hörte. Sein Name war Michael Philip Jagger und er besaß als einziger seines Jahrgangs original amerikanische Basketballstiefel. Verwirrt?

So liest sich das, so hört sich das an, wenn man eintaucht in die im Lauf von vier Jahrzehnten. aufgetürmten Festmeter Rolling-Stones- Literatur. Welcher Lehrer hat MickJagger wann warum geschlagen? Wer hat Keith Richards die erste Gitarre gekauft? Und wie teuer war sie? Wie hoch war die Kaution, die Richards hinterlegen musste, als man in seinem Anwesen Cannabis, Mandrax, Heroin und eine 38er Smith & Wesson fand? Tausend Pfund? Lächerlich. So lächerlich wie die Faktenhuberei jedes weiteren Biographen. Denn die Wahrheit über die Rolling Stones findet sich nicht in den Erinnerungen eines pensionierten Erdkundelehrers, nicht auf alten Familienfotos und auch nicht in den zahllosen Interviews, die Mick Jagger, Brian Jones, Keith Richards, Bill Wyman und Charlie Watts (und Mick Taylor und Ronnie Wood) während ihres vier Jahrzehnte währenden Daseins als Rolling Stones je gegeben haben. Die Wahrheit ist auf Platte, das Runde muss auf das Eckige, eine LP dauert gut dreißig Minuten. Und diese erste LP erschien 1964, fast zwei Jahre nach ihrem ersten Auftritt als Rolling Stones, und sie ist Biographie genug.

Geräusch eines Tonabnehmersystems auf oft abgespieltem Vinyl: Ein Schlagzeug holpert durch die Schlaglöcher zwischen Flagstaff, Arizona und Oklahoma City, „oh, so pretty“; entspannt pluckern die Gitarren. Darüber, dazwischen Jaggers Stimme, völlig unangestrengt, entspannt am Mikrophon lümmelnd, noch nicht so sexuell aufgeladen wie wenig später, noch nicht so selbstparodistisch, so selbstverliebt: „Git yoooour kicks on Route 66.“ Das ist ein Amerika of the mind, eine Welt, von der weder Sänger noch Publikum allzu viel wissen, ein Versprechen eher. Das Lied aus Chuck Berrys Kofferraum weiß noch nichts von Vietnam und toten Studenten in Ohio, ahnt nichts von den Kugeln auf die Kennedys, auf Martin Luther King, auf Malcolm X. Und der junge englische Sänger erst recht nicht. Das Liedchen lässt vielleicht die Landung auf dem Mond erahnen, doch nicht den Einsturz des noch gar nicht erbauten World Trade Centers...[...]

...Und wie die alte Route 66 heute nur noch als Touristenattraktion existiert und der reale Verkehr dafür auf den Highways fließt und steht, die parallel zur Straße der Rock'n'Roll-Mythen führen, so ist auch die Musik und die Show der Stones gleichzeitig museal und gigantomanisch geworden: von der besten zur bestbezahlten Rockband der Welt. Vom Traumpfad eines afro- amerikanischen Rock'n'Roll- Beatniks zum voll klimatisierten One-World-Parkhaus. Das wird keiner im Sinn gehabt, das wird sich niemand erhofft haben, als an jenem 12. Juli 1962 eine zusammen- gewürfelte Musikantentruppe ihre zusammengewürfelte Ausrüstung in den Marquee Club schleppte, um Alexis Korner zu vertreten.

Damals, so hoffen wir, nein, so wissen wir, weil wir es in jedem Ton ihrer vielen guten Songs auch hören können, wollten sie alles. Aber nicht um jeden Preis. Und nur dafür haben wir sie vierzig Jahre lang geliebt.
 
KARL BRUCKMAIER

Vollständiger Artikel erschienen in: SÜDDEUTSCHE ZEITUNG,Nr. 159, 12.07.2002, S. 13