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Ich über mich | Olympia 1972 |
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Texte |
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Irgendwo in London stand ein Küchenfenster einen Spalt
offen.
Damit die Katzen hinaus konnten. Und die Musiker herein. Die Besitzer
von
Küche und Fenster hießen Big 8 Broonzy, Muddy
Waters
oder T-Bone Walker. Wie die Katzen hießen, ist nicht
überliefert.
Dafür erfahren wir, dass Alexis Korners
Vater ein ehemaliger
K&K-Offizier in Diensten des britischen Geheimdienstes war, was es
mit dem Sinowjew-Brief auf sich hatte und dass Alexis Korner
während
Lonnie Donnegans Militärzeit in Chris Barbers Band Banjo spielen
durfte.
Zwanzig Meilen entfernt, in der Grafschaft Kent, stand derweil ein Junge in kastanienbrauner Schuluniform vor dem Radio und erfand spanisch klingende Nonsens-Reime zur südamerikanisch angehauchten Schlagermusik, die seine Mutter beim Großreinemachen so gern hörte. Sein Name war Michael Philip Jagger und er besaß als einziger seines Jahrgangs original amerikanische Basketballstiefel. Verwirrt? So liest sich das, so hört sich das an, wenn man eintaucht in die im Lauf von vier Jahrzehnten. aufgetürmten Festmeter Rolling-Stones- Literatur. Welcher Lehrer hat MickJagger wann warum geschlagen? Wer hat Keith Richards die erste Gitarre gekauft? Und wie teuer war sie? Wie hoch war die Kaution, die Richards hinterlegen musste, als man in seinem Anwesen Cannabis, Mandrax, Heroin und eine 38er Smith & Wesson fand? Tausend Pfund? Lächerlich. So lächerlich wie die Faktenhuberei jedes weiteren Biographen. Denn die Wahrheit über die Rolling Stones findet sich nicht in den Erinnerungen eines pensionierten Erdkundelehrers, nicht auf alten Familienfotos und auch nicht in den zahllosen Interviews, die Mick Jagger, Brian Jones, Keith Richards, Bill Wyman und Charlie Watts (und Mick Taylor und Ronnie Wood) während ihres vier Jahrzehnte währenden Daseins als Rolling Stones je gegeben haben. Die Wahrheit ist auf Platte, das Runde muss auf das Eckige, eine LP dauert gut dreißig Minuten. Und diese erste LP erschien 1964, fast zwei Jahre nach ihrem ersten Auftritt als Rolling Stones, und sie ist Biographie genug. Geräusch eines Tonabnehmersystems auf oft abgespieltem
Vinyl: Ein
Schlagzeug holpert durch die Schlaglöcher zwischen Flagstaff,
Arizona
und Oklahoma City, „oh, so pretty“; entspannt pluckern die Gitarren.
Darüber,
dazwischen Jaggers Stimme, völlig unangestrengt, entspannt am
Mikrophon
lümmelnd, noch nicht so sexuell aufgeladen wie wenig später,
noch nicht so selbstparodistisch, so selbstverliebt: „Git yoooour
kicks
on Route 66.“ Das ist ein Amerika of the mind, eine Welt, von der
weder
Sänger noch Publikum allzu viel wissen, ein Versprechen eher. Das
Lied aus Chuck Berrys Kofferraum weiß noch nichts von Vietnam und
toten Studenten in Ohio, ahnt nichts von den Kugeln auf die Kennedys,
auf
Martin Luther King, auf Malcolm X. Und der junge englische Sänger
erst recht nicht. Das Liedchen lässt vielleicht die Landung auf
dem
Mond erahnen, doch nicht den Einsturz des noch gar nicht erbauten World
Trade Centers...[...]
KARL BRUCKMAIER
Vollständiger Artikel erschienen in: SÜDDEUTSCHE ZEITUNG,Nr. 159, 12.07.2002, S. 13 |