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Ich über mich Olympia 1972
Essener Songtage 1968
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Philipp Schmidt-Rhaesa, Universität Osnabrück
Entwicklung der Liedermacherei 

1. Vom Kriegsende bis zur Burg Waldeck

(Zum 40. Jahrestag des Festivals auf Burg Waldeck - zum ersten Mal traf man sich 1964 - fand u.a.ein Gespräch statt, auf dem Festival "Politik und Musik 2004". Unter Leitung von Folker!-CvD Michael Kleff diskutierten Bernhard Hanneken (Festival-/Konzertveranstalter und freier Journalist, Freising), Eckard Holler (Pädagoge, Tübingen), Diethart Kerbs (Kunstpädagoge, Kultur- und Fotohistoriker, Berlin), Lutz Kirchenwitz (Kulturwissenschaftler, Berlin), Tom Schroeder (Journalist und Rundfunkmoderator, Mainz) sowie Hein und Oss Kröher (Musiker, Pirmasens). Eine ausführlichere Dokumentation dieses Gesprächs sowie der anderen Diskussionen und Workshops findet sich in der vom Verein Lied und soziale Bewegungen herausgegebenen Broschüre "Festival Musik und Politik 2004".
Auf der Seite finden sich auch aktuelle Fotos von u.a. Tom Schröder, Bernd Witthüser, Walter Mossmann)

Nachkriegszeit 

Nach dem Krieg ist eine Stagnation des Liedgesangs in Deutschland überhaupt zu beobachten. Hauptgrund ist der Missbrauch des Liedes durch die Nationalsozialisten. 
"Kurz nach Kriegsende hatte man wenig Lust zu singen. Noch hatte man die Lieder der Faschisten im Ohr, die verlogenen Schnulzen der Hitlerjugend ('Es geht eine helle Flöte') und die blutrünstigen Marschgesänge von SA und Naziwehrmacht."
Trotzem ist der Nationalsozialismus nicht der einzige Grund für ein distanziertes Verhältnis zum Lied. Die kulturellen Unwälzungen der Kriegs- und Nachkriegszeit haben über die Erkenntnis hinaus, dass das Lied missbraucht wurde, einen breiten Traditionsbruch überhaupt erst spürbar gemacht. 
"Die deutschen Liedermacher - heißt es immer wieder - haben wegen des Missbrauchs in der Nazizeit Probleme mit dem deutschen politischen Lied, mit der Tradition des "Volksgesangs" überhaupt. Doch viele der bunten Traditionsfäden beim populären Singen wurden viel früher abgeschnitten, ohne dass neue geknüpft worden wären." (Barbara James)
Franz Josef Degenhardt fasst diese Negation des Liedes später in einem Lied zusammen, das in praktisch allen Publikationen, die sich mit der Geschichte der deutschen Liedermacher auseinandersetzen, zitiert wird: 

"Tot sind unsere Lieder 
unsre alten Lieder. 
Lehrer haben sie zerbissen, 
Kurzbehoste sie zerklampft, 
braune Horden totgeschrien, 
Stiefel in den Dreck gestampft." 

1968, als Degenhardt diesen Text veröffentlicht, ist eine breite Rekonstituierung des Liedes im vollen Gange; er wird im von Barbara James genannten Sinne als ausschließliche Manifestation des NS-Traumas gedeutet, obwohl sich der Autor in ihm generell gegen die Okkupation des Liedes wendet, von welcher Seite auch immer (außer der eigenen, versteht sich). Außer den "braunen Horden" sind hier die singenden Pfadfinder und Wandervögel ("Kurzbehoste") ebenso gemeint wie der verschleißende Volkslied- gebrauch in Schulen ("Lehrer haben sie zerbissen"). Dass die "alten Lieder" von "Stiefeln in den Dreck gestampft" worden seien, muss kein auf Nazistiefel begrenzter Hinweis sein; auch die Bundeswehr sang und singt heute noch. Das Lied konstatiert also die mehrfach gebrochene deutsche Liedtradition. 
(Besonders ist hier die intellektuelle Liedrezeption gemeint. Die Mechanismen, die sich über die Unterhaltungsmusik und die schlagerhafte "Volksmusik" ergeben, sind hier gänzlich unberücksichtigt. Es kann lediglich konstatiert werden, dass in Deutschland der Bruch zwischen kommerzieller Volksmusik und "intellektueller" Folklore-Pflege nicht zu überbrücken ist; es existieren zwei Musikformen mit unterschiedlichen Märkten und Künstlern ohne Berührung nebeneinander). 

Ostermarsch 

Bevor es zur Entwicklung dessen kommt, was wir "Liedermacherszene" nennen, werden dennoch neue Lieder 
geschrieben und aufgeführt. Der Schriftsteller Gerd Semmer beginnt schon Anfang der 50er Jahre, politische Lyrik
in Liedform zu verfassen, die kritisch Stellung zu den aktuellen Themen der politischen Öffentlichkeit nimmt. Dieter
Süverkrüp
, der als Jazzgitarrist und   Moritatensänger einigen Erfolg hat, übernimmt, nachdem er und Semmer sich
1956 trafen, die Vertonung und Aufführung der Semmer-Texte . Der "Typus  Liedermacher" ist also bereits in den
50ern wieder aktuell: ein Mann mit Gitarre singt (noch nicht selbst verfasste) Texte anspruchsvoll-politischen Inhalts. 


Dieter Süverkrüp 
 Die Lieder von Süverkrüp/Semmer bekommen in der ab 1960 im Zuge der Atomdebatte
 beginnenden Ostermarsch- Bewegung Publikum und Bedeutung. Überhaupt ist es diese
 Bewegung, die das neue Lied in den folgenden Jahren   entscheidend trägt und bildet.
 Sie bringt als Antwort auf Wiederaufrüstung, kalten Krieg und internationale Konflikte
 ein von der deutlichen Kritik an den Herrschenden und der Forderung nach "Frieden"
 geprägtes Liedgut hervor. Die Protagonisten dieser Bewegung sind vor allem Semmer,
 Süverkrüp, die Sängerin Fasia Jansen und andere.

 Die Ostermarsch- und Friedensbewegung nimmt Anfang der 60er Jahre neben den ersten
 Semmer-Liedern auch Lieder aus der amerikanischen Protestbewegung auf, besonders
 "We shall overcome". Die sich Anfang der 60er Jahre langsam formierende musikalische
 Protestkultur greift noch sehr zaghaft auf eigene Lieder zurück. Trotzdem ist sie als
 Bewegung ein guter Humus für neue Lieder: sie hat ein Thema,  Tausende begeisterter
 (junger) Leute, den Bedarf nach eigener kultureller Betätigung.


Bündische Jugend 

Nach dem Krieg hatten sich einige der im Nationalsozialismus verbotenen oder in die HJ integrierten Gruppen der Jugendbewegung neu formiert. Auch die wieder erstande Bündische Jugend singt wieder. Wie vor dem Krieg ist es Folklore, die die jungen Sänger beschäftigt. Es wird heute bisweilen behauptet, dass ein großer Teil der Jugendbewegung latent nationalistisch und somit über die Eingliederung ins Dritte Reich nicht unerfreut gewesen sei. Tatsächlich aber kennzeichnete die Bewegung auch eine große ideologische Heterogenität, die von romantisch verklärter Weltflucht bis zu revolutionär-antibürgerlichem Pathos, von nationalistischen bis zu sozialistischen Tendenzen reichte. Eine der wichtigsten Gruppen, die "Deutsche Jungenschaft dj 1.11" unter Eckhard Koebel, genannt "tusk", versuchte sich vor dem Krieg sogar in antinazistischer Agitation . "tusks" dj 1.11 wird von den Nationalsozialisten folgerichtig total zerschlagen. 

Burg Waldeck

Wie alles anfing (1)

"Aus den ganzen Gesprächen, die wir auf der Waldeck oder in Berlin führten, ist dann die Idee entstanden, nicht mehr nur Seminare zu machen und theoretische Orientierungssuche zu betreiben, sondern eben auch mit dem wunderbaren Gelände der Waldeck, mit dieser schönen Landschaft, etwas zu machen, was nun nicht das Wiederaufkochen der alten bündischen Suppengerichte wäre, sondern tatsächlich etwas Neues. Da wirkten die Kulturerfahrungen nach, die wir teils aus der bündischen Jugend hatten, teils inzwischen neu gemacht hatten, also die Platten von Ernst Busch, die Lieder von Brecht und Weill und alles dies, auch die internationale Folklore, das hatten wir schon auf der Pfanne. Aber es erschienen dann auch in Ostberlin Bücher, wie das von Gerd Semmer, mit Übersetzungen französischer Revolutionslieder."

Diethart Kerbs: Die Entstehung der Waldeck-Festivals in den sechziger Jahren. Vortrag auf dem Treffen des Mindener Kreises am 04.0 6.1994 in Minden/Westfalen; Köpfchen 1/1996, S. 13 ff.

Bereits in den 20er Jahren hatten Gruppen des "Nerother Wandervogels" im Hunsrück bei Kastellaun mit der Burg Waldeck eine Burgruine entdeckt, auf der sie ein Zentrum des Wandervogels, einen "Lehrstuhl der Vagabondage" errichten wollten. Die idyllisch gelegene Ruine war fortan Treffpunkt von Wandervögeln. 
Nach dem Krieg treffen sich die wiedergegründeten Bündischen Gruppen wieder, wie vor 1933 auf der Burg. Parallel zur Friedensbewegung entwickelt sich hier ein neues Verständnis vom Lieder singen. Ende der 50er Jahre wird aus den Kreisen der Bündischen Jugend eine "Arbeitsgemeinschaft Burg Waldeck" (ABW) gegründet, die die Burg organisatorisch verwalten und betreuen soll. In dieser Arbeitsgruppe sind unter anderen die Pirmasenser Volkssänger Hein und Oss Kröher und der Sänger Peter Rohland aktiv.
Die Waldeck ist aber nicht nur "Singelager" der Jugendbewegung. Schon in den 50er Jahren ist sie Zentrum politischer und sozial-pädagogischer Diskussion .  Schon jetzt kommt es zu deutlich spürbaren Konfrontationen zwischen dem ebenfalls ansässigen konservativ- patriotischen Nerother Wandervogel und den offeneren und progressiveren anderen Gruppen. 

Die Bündische Jugend wurde nach dem kriegsbedingten Bruch mit dem deutschen Volkslied von
einer musikalischen "Liedersammelbewegung" bestimmt, die das bündische Singen mit ausländischer Folklore bereicherte. Auch die Kröhers und Rohland sind leidenschaftliche Liedersammler. Sie haben bei einem Treffen Ostern 1961 die Idee, auf der Waldeck ein internationales Folklorefestival zu organisieren, auf dem ein "weltmusikalischer" Querschnitt präsentiert werden soll . Gleichzeitig erkennen die Organisatoren die Notwendigkeit einer Rückkehr zur eigenen, zur deutschen Folklore. Diese Rückkehr in Abgrenzung zum Mißbrauch der Musik im Nationalsozialismus kommt einer "Neuschaffung" der deutschen Folklore gleich; aus diesem Grunde entsteht das geflügelte Wort von der Waldeck als "Bauhaus der Folklore". 

Chanson Folklore International - Festivals 

Das erste Waldeck-Festival kommt Pfingsten 1964 als "Chanson Folklore International" zustande. Relativ spät entscheidet die organisierende ABW, außer deutscher Volksmusik internationale Folklore und auch Chanson ins Programm zu nehmen, was nach der damals versuchten Definition eigene von einzelnen gesungene Lieder sein sollten. Die Teilnahme am Festival wird sogar in den folgenden Jahren geradezu davon abhängig gemacht, daß die Sänger auch etwas "Selbst Gestricktes" vortragen können. 
Die Suche nach Teilnehmern war zunächst eine Sache des persönlichen Freundeskreises der Organisatoren. Über die organisierenden Studentenkreise wird der linke "pläne"-Verlag angesprochen, in dem Semmer und
Süverkrüp bereits einige Lieder veröffentlichten.

Hein und Oss Kröher
  Auf diesem ersten Treffen sind es 13 Sänger, die erscheinen; darunter ist Dieter Süverkrüp bereits mit eigenen Liedern vertreten.
Wie alles anfing (2)

"Wir waren natürlich enthusiasmiert von dem, was wir hörten aus Amerika. Das hat uns natürlich gereizt, wenn man in der Zeitung las, auf dem Campus von Berkeley genügt der Besitz einer Gitarre, um verhaftet zu werden. Das wollten wir auch gerne, dieser Streit mit der Staatsmacht, das hat uns gereizt. Uns saß ja noch die abgrundtiefe Spießigkeit der fünfziger Jahre in den Knochen. Alles dies hat dann in unseren Gesprächen dazu geführt, dass wir sagten, warum versuchen wir nicht, auf diesem schönen Gelände, welches uns zur Verfügung steht, ein Treffen, ein Festival, einen Workshop, eine große Werkstatt zu machen für Folklore, Folksong, Chanson und politische Lieder in Deutschland."

Diethart Kerbs: Die Entstehung der Waldeck-Festivals in den sechziger Jahren. Vortrag auf dem Treffen des Mindener Kreises am 4.6.1994 in Minden/Westfalen.

Das Festival entwickelt sich in den nächsten Jahren explosionsartig. Immer mehr Zuschauer und Sänger strömen um Pfingsten auf die Burgruine. Gleichzeitig werden selbst geschriebene Lieder immer wichtiger und bestimmender. Fast alle der jungen Nachwuchssänger, die auf der Waldeck ihre ersten Auftritte vor großem Publikum haben, werden später bekannte Liedermacher (Reinhard Mey, Walter Moßmann, Franz-Josef Degenhardt, Christof Stählin, Schobert und Black, Rolf Schwendter, Peter Rohland). Daneben treten bekannte englischsprachige Folksinger auf  (Hedy West, Pete Seeger, Colin Wilkie, Shirley Hart, Phil Ochs). Spätere Schlagersänger stellen sich mit internationaler Folklore vor (Ivan Rebroff, Katja Ebstein). Manche Künstler sind aber auch schon vor der Waldecker Zeit einschlägig bekannt (Dieter Süverkrüp, Hanns-Dieter Hüsch).
Außerdem treffen sich auf der Waldeck zahlreiche junge Wissenschaftler, Radiomacher, Plattenproduzenten, Schriftsteller und andere Intellektuelle und geben den Treffen zusammen mit den Musikern durch aktive Diskussionen einen theoretischen Hintergrund (Martin Degenhardt, Reinhard Hippen, Diethard Kerbs, Rolf-Ulrich Kaiser, Bruno Tetzner, u.v.a.).

Auseinandersetzungen

Die Treffen auf der Waldeck verlaufen nicht nur harmonisch: zunächst kommt es von Anfang an zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen dem "Nerother Wandervogel", dem die Burgruine gehört, und der ABW.
Der konservativ bis nationalistisch orientierte "Nerother Wandervogel" mag sich nicht mit der links gerichteten Intellektuellenszene abfinden, die ihr Zentrum plötzlich auf der Waldeck errichtet hat: es kommt nach einem Rechtsstreit zur hermetischen Abriegelung der Nerother auf dem Ruinengelände, der ABW fällt das Festivalgelände oberhalb der Burg zu.

Colin Wilkie und Shirley Hart   
Die Festivals der sechziger Jahre werden fortan begleitet von Sabotageakten, deren Urheberschaft immer wieder den Nerothern
zugeschrieben wird: Flaggen werden verbrannt, Stromkabel zerschnitten, Wassertanks gesprengt, die Holzbühne wird 1967 angezündet und brennt völlig nieder. 1969 wird auch die frisch gebaute Betonbühne von unbekannten Tätern mit 100 Kilo Sprengstoff zerstört. Zwar ist die Schuld der Nerother nicht bewiesen, allerdings streitet der Führer der Organisation, Karl Oelbermann, dies auch nicht ausdrücklich ab . Die Waldeck-Festivals werden durch die fortgesetzten Anschläge und die Auseinandersetzungen mit den Nerothern nicht zuletzt finanziell schwer geschädigt. 

Politisierung 

Die Waldeck ist von Anfang an ein politisches Forum, das sich gegen jegliche nationalistische Okkupation des Liedes wehrt.
Auch das Liedverständnis der Waldeck ist, wenn man so will, politisch: 
"[...] ein Chanson ist ein Lied, das sich dagegen sträubt, im Chor gesungen zu werden. Dann ist es auch ein Lied, das einen
Hörer braucht und diesen Hörer gelten läßt. Keine Manifestation eines rauschhaften Gemeinschaftsgefühls, sondern eine
Anrede an den Einzelnen. [...] das ist die untergründig demokratische Tendenz aller Chansons
."

Es ist eine logische Folge, daß über die ABW und die teilnehmenden Intellektuellen die Waldeck von der Studentenbewegung
radikal vereinnahmt wird. Es treten ab 1967 immer stärker politische Diskussionen und Forderungen zutage. Mit der Studentenrevolte 1968 schwappt revolutionärer Geist auf die Waldeck; es wird diskutiert, resolutiert und kritisiert. Die Selbermacher geraten in den Sog der revolutionären Bewegung. Die auftretenden Künstler sehen sich auf einmal konfrontiert
mit übersteigerten Forderungen nach politischer Betätigung. Wer den Forderungen nicht genügt, wird niederdiskutiert oder -gepfiffen. Am Ende kristallisiert sich sogar eine richtiggehende Kunstfeindlichkeit unter dem Slogan "Stellt die Gitarren in die
Ecke und diskutiert" heraus. 
Das markanteste Beispiel dafür ist der Auftritt Hanns Dieter Hüschs 1968, der schon nach zwei Liedern abgebrochen werden
muss.

Statt dessen verlangen aufgebrachte Besucher klare politische Stellungnahme, Agitation und Diskussion. Die Verärgerung Hüschs über dieses Debakel dürfte einer der Gründe sein, warum seine damalige Zugehörigkeit zur Liedermacherszene heute kaum mehr bekannt ist. Hüsch hält sich nach dem Ereignis von den großen Liedermacher- Festivals weitgehend fern und agiert fortan vorwiegend als Einzelkünstler und Einzelgänger. 
In dieser Zeit der Politisierung der Waldeck bestimmen einige Aktivisten maßgeblich das Geschehen. Eine intellektuelle "Quadriga" (Rolf-Ulrich Kaiser, Martin Degenhardt, Reinhard Hippen, Tom Schröder) nimmt schon ab 1967 intensiv Stellung (unter anderem gegen den Verleger Ernst Voggenreiter, der sich "nicht klar genug" von seinem im Nationalsozialismus aktiven Onkel distanzierte ). 

Einer der bekanntesten Vorreiter der revolutionären Sache ist der Wiener Rolf Schwendter. Der dreifach promovierte Sänger und Theoretiker (erste Promotion in Theaterwissenschaften, zweite in Staatswissenschaften, dritte in Jura - Freunde nennen ihn dafür scherzhaft Genosse Genosse Genosse Schwendter) vertritt mit radikaler Befürwortung von subkulturellem Leben und sexueller Befreiung, von Studentenprotest und Kommunismus exakt die Vorstellungen der bewegten Studenten auf der Waldeck. Sein Auftreten ist bis ins letzte inszenierte Subkultur: er begleitet sich statt mit der üblichen Gitarre nur mit einer Kindertrommel, lernt keine Texte auswendig, singt "falsch". Schwendters Auftauchen, von den einen als politisches  Signal, von anderen als "Erfrischung" (Stählin ) gesehen, beeinflusst viele Liedermacher der Waldeck.

Aber Schwendters extreme Positionen verstärken nur den Bruch insbesondere zu den Künstlern, die sehr intensiv auf dichterische Qualitäten achten (etwa Stählin) oder denen, deren Produkte glatt und gefällig sind und auch sein wollen (Reinhard Mey). Sie werden von Schwendter auf der Waldeck heftig angegriffen, ja, öffentlich-inquisitionär demontiert. 

Der Hang zum Extremismus in Position und Diskussion hat 1968/69 Sprengkraft. Der Einfluss politischer Kräfte wirkt tatsächlich für viele Künstler bremsend, behindernd. Später wird gar von einem "amusischen" Einfluss insbesondere des SDS und der DKP auf das Treffen gesprochen.

Hanns-Dieter Hüsch
Gesungene Flugblätter
 
 

Ich weiß nicht, inwieweit meine Lieder, die ja mehr „Sprechgesänge“ sind, zur Veränderung der Gesellschaft beitragen. Jedenfalls halte ich nicht viel von der alten Milchmädchenrechnung, gestern wieder drei Personen erobert, heute wieder vier Zuhörer überzeugt, macht zusammen sieben, also werden wir zwar stückchenweise, aber bald eine bessere Gesellschaft haben.

Lieder machen keine Revolution, das ist richtig, aber die Revolution macht Lieder. Die „Bühne“ der Revolution ist die Straße. Die besten Lieder werden die sein, die man auch unter freiem Himmel singen kann.

Das alte Kabarett-Chanson, mit seinen „schillernden Pointen“ für ein kleines kulinarisches Ausgeh-Publikum, ist mit seinem Schmunzel-Latein nicht mehr zu gebrauchen.

Ich selbst, ich muß das gestehen, bin dabei, mich von dieser „Lied-Art“ zu lösen. Brillante Formulierungen, reizvolle Assoziationen, ja selbst das „äußerst Poetische“, alle diese Mittelchen aus Liedermachers Werkstatt sind nur Tröstungen für den Nachhauseweg, aber keine Klarsicht-Erklärung zum weitersingen.

Das effektivste Lied wird in Zukunft das gesungene Flugblatt sein. Es wird die Gesellschaft nicht von heute auf morgen verändern, aber es hält die Revolution in Gang. Es kann aus vier Zeilen bestehen, oder nur aus zwei Zeilen, vielleicht sogar nur aus einem Wort. Die Unterdrückten werden es rufen und schreien, plötzlich werden sie es singen, denn Lieder machen stark.

Nicht also das einzelne feingliedrige ästhetische Klein-Kunst-Chanson, bürgerlich-anspruchsvoll, bessert die Menschheit, sondern viele Lieder von vielen gesungen ändern das System.

SONG-MAGAZN IEST 68, S.15
Rolf Schwendter
Franz-Josef Degenhardt ändert seinen Stil radikal; er tritt ab 1967 statt mit sensiblen Studien aus dem zwischen-menschlichen Bereich und gemäßigt politischen Stellungnahmen mit scharfen Agitpropsongs auf. Radikale politische Stellungnahme wird zum Postulat erhoben, feinsinniger Kunst eine Absage erteilt:

"Zwischentöne sind nur Krampf [...], 
Schöne Poesie ist Krampf [...], 
Schöne Künste sind nur Krampf im Klassenkampf"

Vorsichtiges, Vielschichtiges und Ironisches (wie bei Hüsch) fällt den Extrempositionen von Degenhardt, Schwendter und anderen auf der Waldeck zum Opfer. 

Bruch 

Die Widersprüche werden immer größer. 1969 organisiert nicht mehr die ABW das Festival, sondern eine im Jahr zuvor gegründete "Basisgruppe Waldeck", die sich vorwiegend aus den Kreisen des SDS speist . Aus dem Folklorefestival wird eine revolutionär-politische Diskussionswerkstatt, deren Publikum harsche Forderungen an die Künstler stellt. Doch während manche politische Äußerung als verwaschen und reaktionär diffamiert wird, haben gänzlich unpolitische Gruppen unbehelligt Erfolg (etwa die Comedytruppe "Insterburg und Co").  

Die Gründe für den Niedergang der Festivalkultur auf der Waldeck dürften vielgestaltig sein: 1969 ist das Festival, bis auf wenige Ausnahmen und mit den geschilderten Widersprüchen "voll politisiert". Hitzige Kontroversen und musikalische Agitation prägen das Geschehen. Die Linke nimmt zunehmend extreme Züge an, so dass der "Waldecker Friede" empfindlich gestört wird. Etwa die "First Vienna Working Group", die den Dogmatismus der Linken durch provokatives Theaterspiel aufs Korn nimmt, bekommt die Radikalisierung zu spüren: 
"Im großen Festzelt [...] ließen sich die Wiener ein kapitales Menü auf die Bühne servieren (Krabben etc.) und spielten 'Waldeck: Diskussion' - will sagen: Berger provozierte mit gotteslästerlichen Sprüchen ('Auch der Onkel Ho geht nicht mehr aufs Klo'), wurde als ,Faschist' von der Bühne gedrängt und fand, am nächsten Tag, sein Auto demoliert vor."

Klaus Böhne (eingetragen am 2.1.07) ergänzt die Darstellung so:

Das äußere Zeitgeschehen ist hinsichtlich des Ablaufes des letzten Waldeckfestivals
erläuterungsbedürftig: Neben der Veränderungswut des SDS, die sich auch in internen, selbstzerfleischenden Diskussionen äußerte, gab es zwei Ereignisse, die zu dieser Zeit geschahen. Zum einen war dies der Biafrakrieg, der durch religiöse und stammesmäßige Differenzen verursacht, von diversen Ölproduzenten unterstützt, in Nigeria tobte. Die Weltpresse war voll von Bildern dort verhungernder Kinder. Ho Chi Minh starb am 3.9.1969.

In Darmstadt gastierte eine Wiener Theatergruppe, jene "First Vienna Working Group", die -das bürgerliche Theaterpublikum provozierend - aufführte: „Biafra:Hunger“. Die Darbietung bestand darin, dass die Agierenden an einem langen Tisch aufgereiht saßen – das Abendmahl von Leonardo da Vinci nachahmend -, opulent aßen und ab und zu zwischen Rülpsern „Biafra“ sagten und traurig den Kopf schüttelten. Das Publikum fiel darauf herein, war empört und steigerte sich in seiner Aufregung so weit, bis zur Zufriedenheit der Theatergruppe die Bühne gestürmt wurde.

„Au, fein,“ dachte sich der SDS, „diese Bürgerschrecks laden wir uns auf die Waldeck ein!“ Gesagt, getan. Während des Festivals kam die Nachricht vom Tode Ho Chi Minhs. Diskussion darüber, ob man nun das Festival abbrechen solle, müsse. So gerade rang man sich durch, trotz des Verlustes des Genossen Ho weiterzumachen.

Als nun die Wiener Gruppe auftrat, wurde wieder ein vorzügliches Essen aufgetragen, wieder allgemeines Gemurmel auf der Bühne, aber kein „Biafra“. Nach einiger Zeit, schon quälend lange hatte es gedauert, erhob sich einer der Darsteller und sagte: „Wir spielen heute nicht «Biafra:Hunger» sondern «Waldeck:Diskussion» “. Weiteres Essen und Gemurmel auf der Bühne. Dann stand wieder einer der Darsteller auf und sagte:

„Auch der gute Onkel Ho
geht nun nicht mehr auf das Klo!“

Das war nun zuviel, die Söhne und Töchter der Theaterstürmer in Darmstadt taten es ihren Eltern nach und stürmten auch hier die Bühne.

Es ist eben ein langer Weg bis zu einem verändertem Bewusstsein.

Für den endgültigen Bruch gibt es keine einheitliche Erklärung. Tetzner beschreibt ihn als "Überforderung" der traditionell gesinnten Bündischen, andere weisen auf die unvereinbaren Diskussionsstandpunkte innerhalb der Linken hin. Auch ist der Widerspruch des gegenkulturellen Entwurfs der "Waldecker" unvereinbar mit der zunehmenden Kommerzialisierung; Radio und Fernsehen finanzieren das Festival maßgeblich durch ihre Sendetantiemen. Die Kluft zwischen antikapitalistischem Anspruch und kommerzieller Wirklichkeit ist immens: "Und alle waren nett zum stets gegenwärtigen Geldgeber [Rundfunk und Fernsehen]", konstatiert der SPIEGEL- Reporter spöttisch . 

Ein letzter Grund mag im raschen Abklingen der Studentenbewegung Ende der 60er Jahre liegen; der SDS löst sich 1970 auf. Vermutlich sinkt dadurch in der Folge auch das Interesse der Basisgruppe, erneut das aufwendige Projekt durchzuführen. 
Zum anderen aber hat die von der Waldeck ausgehende musikalische Bewegung die Schaffung von neuen Strukturen mit sich gebracht. Die Waldeck ist nicht mehr das einzige Festival; sie bekommt Konkurrenz. 

Wirkung 

In ganz Deutschland entstehen (bereits parallel zu den erfolgreichen Treffen im Hunsrück) neue Folklore- und Liedermacher- festivals. Die größten in Waldeck-Nachfolge sind Interfolk Osnabrück, die Internationalen Essener Songtage (Organisation
R. U. Kaiser)
, das Nürnberger Bardentreffen, ein Liedermachertreffen in Ingelheim, das Open-Ohr-Festival in Mainz und mit steigender Tendenz mittlere und kleinere Festivals in großer Zahl. 
Außerdem gründen sich in praktisch allen größeren Städten Folkclubs. Es wird möglich, mit der wieder modernen Musikrichtung professionell Geld zu verdienen. In diese Zeit fallen die ersten Schallplattenaufnahmen der "Waldecker Barden". 
Dass die Waldeck nicht nur als Festival-Modell wirkt, sondern in der Begegnung mit ihr unmittelbar junge Künstler geprägt werden, ist etwa an Walter Moßmann zu erkennen. Moßmann läßt sich durch das erste "Chanson Folklore International" 1964 zu eigenen Chansons anregen, tritt bereits ein Jahr später mit großem Erfolg und eigenem Repertoire dort auf und wird in der Folgezeit einer der wichtigsten und bekanntesten Liedermacher überhaupt. 

Trotz einer sich rasend schnell ausbreitenden Folk-, Chanson- und Liedermacherszene wird die Waldeck auch nach ihrem Zerbrechen das Symbol des neuen Verständnisses von volkstümlicher Musik schlechthin bleiben. Sie dient nach ihrer "Abdankung" weiter als Kommunikations- und Kulturzentrum, als Liedermachertreffpunkt und Konzertforum. 

Von 1970 bis heute...


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