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     Lassen wir die Fragen moderner Sanitärtechnik beiseite - lassen wir uns lieber von den Schwingen der Erinnerung wieder hinübertragen in die gute Stube von Tante Bertl und die müßig-friedvollen Stunden auf ihrem Topf. Hier herrschten Frieden und stille Gelassenheit, anderswo wurde ich immer wieder mit lästigen Fragen gestört.

     Später, als sich endlich eine Toilettentür schützend zwischen den Denker und die schamlos-neugierige Mitwelt schob, da konnte man in der heimeligen Kabine mit dem kleinen Herzchen in Ruhe seinen Gedanken nachhängen... Und noch viel später, im Gymnasium, da zog es mich, wenn ich einen Deutsch-Aufsatz zu schreiben hatte, immer erst einmal an jenen Ort, den die Amerikaner so schamvoll mit "Ruheraum" oder "Badezimmer" oder "Trost-Station" oder „Puderzimmer“ umschreiben. Da herrschte Friede und einsame Stille, da wurde man nicht von lästigen Mitschülern behelligt, die wieder einmal die Aufgabenstellung nicht verstanden hatten, da konnte man in Gelassenheit seine Gedanken ordnen und einen Weltentwurf gestalten - oder doch zumindest ein Konzept für den Aufsatz..


     
Die scheinbare Gewissheit allerdings, die damals aus diesem Topf-Sinnen erwuchs, dass nämlich alle in den Himmel kommen, wich dann nach manchen bitteren Lebenserfahrungen doch einer eher skeptischen Betrachtungsweise. Klar, die Tante Inge ist ganz gewiss dort und schaut mir gerade über die Schulter, ob ich immer bei der Wahrheit geblieben bin, aber all die anderen? Nero? Hitler? Stalin? Saddam? Bush? Der alte Holzmichl? Dieter Bohlen? Uli Hoeness? Ich weiß ja nicht...
 
      
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10. Dezember:

   Waltraut bedauerte schon mehrmals, dass sie nun nicht mehr nach Innsbruck fahren könne, um die Oma Else zu besuchen. Wahrscheinlich vermisst sie das Gefühl der Vorfreude und Erwartung. “Aber jetzt bin ich ja immer hier, das ist auch schön!“, meinte sie dann.

11. Dezember:

   Zu unserem großen Kummer hatten die Kinder mit den marokkanischen Wachtposten von gegenüber angebandelt. Wie sollte man ihnen beibringen, dass sie das nicht sollen? Die kinderlieben Marokkaner konnte man ihnen unmöglich als böse hinstellen. Außerdem wäre das zu gefährlich. Sie jedesmal unter Protestgebrüll von dort wegholen, konnte man auch nicht.

     Eines Tages ergab sich die Lösung von selbst.
„Was ist das?“ fragte Waltraut, auf unsere Fahnenstange am Fenster deutend.
- Eine Fahnenstange.
- Warum ist da keine Fahne drauf ?
- Weil wir unsere Fahne nicht aufhängen dürfen.
- Was ist das für eine Fahne? Warum nicht so eine Fahne, wie sie die Franzosen haben?
- Die Fahne, die wir lieb haben, die dürfen wir nicht aufhängen. Und die Fahne, die die Franzosen haben, die mögen wir nicht. Die Franzosen mögen ihre Fahne und wir unsere.
- Warum dürfen wir unsere Fahne nicht aufhängen?
- Weil die Franzosen sie nicht mögen. Wenn sie uns mit der Fahne sehen, werden wir eingesperrt. Und Vati, Onkel Klaus und Onkel Heinz sind schon eingesperrt, weil sie die Fahne mit dem Hakenkreuz lieb haben.
- Zeig mir die Fahne!
Immer wieder kommt die Bitte: ,,Zeig mir die Fahne!"

Das Köpfchen war ganz schwer von nachdenklichem Ernst. Und nun konnte ich ihr erklären, dass sie deshalb nicht mit den Marokkanern spielen dürfen, weil sie unter der Fahne der Franzosen stehen, und die Franzosen sind unsere Feinde, und die Marokkaner müssen den Franzosen gehorchen.
- Und wenn sie ihnen nicht folgen, dann geht es ihnen schlecht, nicht? fragte sie ernst.

Am Abend saß Waltraut dann vor ihrer Schiefertafel und malte unermüdlich Hakenkreuze.
Bei den Marokkanern habe ich seither die Kinder nicht mehr gesehen...


***

      Und malte unermüdlich Hakenkreuze... Konnte man am Ende des Schicksalsjahres 1945 noch nicht ahnen, dass es nicht so rühmenswert war, die Fahne mit dem Hakenkreuz geliebt zu haben? Hätte man zumindest nicht darauf verzichten müssen, den Kindern dieses unselige Symbol als liebenswert darzustellen?
     Andererseits - das Bild des Vaters irgendwo in der Ferne, ein eingesperrtes Fantom, aber auch ein Leuchtfeuer ausgesprochener und unausgesprochener Hoffnungen - Wenn der Vati zurück kommt, dann wird alles besser -
durfte man dieses Bild in Frage stellen? Musste er, der sich nicht äußern, der nichts erklären konnte, nicht darauf vertrauen können, dass sein Bild reingehalten wurde?


     Sie malen heute keine Hakenkreuze, und bei den Marokkanern sind sie doch gewesen, viele Jahre später, haben die Wüste erlebt und die Souks, haben mit leichtem Gruseln den singenden Blinden auf der
Jemaal-Fna, dem Hauptplatz von Marrakech, zugehört, ungläubig die Krüppel angestarrt, die ihre verwüsteten Leiber, ihre Furunkel und grausig verdrehten Gliedmaßen zur Schau stellten, haben in prächtigen Sälen gegessen und getrunken und nie wieder daran gedacht, dass sie nicht mit den Marokkanern anbandeln sollten...



Detlev, das so empfindliche Seelchen, stellte heute mit kühler Sachlichkeit und völlig unbewegt fest: „Gell, der Opa lebt nicht mehr lang?“ Als wir ihn ziemlich entsetzt fragten, wie er dazu komme, so etwas zu behaupten, meinte er immer wieder: “Der Opa hat es ja selber gesagt!“, und er wollte es sich nicht ausreden lassen, dass der Opa etwas Unmögliches gesagt haben soll.


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   Der Opa! So viele Erinnerungen habe ich an ihn, aber eine hat sich besonders tief eingeprägt: Er ist zeit seines Lebens, jedenfalls seines von mir überschaubaren Lebens, gestorben. Er war Asthmatiker, aber diese Bezeichnung mochte er gar nicht - Asthma, das klang ihm, dem Beinahe-Mediziner, zu banal: Er bestand darauf, an einer chronischen Bronchitis zu leiden, die ihn unweigerlich in den nächsten Monaten ins Grab bringen werde. Ich sehe ihn noch vor mir, tief in den Lehnstuhl vergraben, hustend und um Luft ringend, ansonsten aber guten Mutes sein Ende ankündigend: „Ja, Büblein - (eigentlich sagte er auf steirisch „Büabl“, aber wer versteht das schon? )- jetzt werd’ ich bald abfahren von dieser schönen Welt…“. Damals war er etwa 72, und noch weitere 16 Jahre lang ist er jeden Winter gestorben. Im Sommer war vom Sterben weniger die Rede.

     Aber woher sollte ich das damals, als Vierjähriger, wissen? Der Opa war eine unangefochtene Autorität - nicht nur, weil er der einzige Mann im Haus war, sondern weil er so ungeheuer viel wusste und nicht nur Latein konnte, sondern es auch verstand, einem leichtsinnig mit Radiergummis experimentierenden Kind das Radiergummi (den Radiergummi sagten wir in Tirol) mit der Pinzette aus den Tiefen der Nase zu  holen, in die es / er  auf wunderbare Weise gelangt war. Und wenn der Opa sagte, dass er bald sterben werde, dann galt das, und es war überhaupt nicht irgendwie gefühllos, das weiterzugeben, sondern einfach realistisch.

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   Aber jetzt muss die Chronistin sich doch ernsthaft rügen: Von Gundel war bisher noch fast gar nicht die Rede. Dabei ist sie eine kleine Sonne, ein Mittelpunkt und die weitaus Vernünftigste unter deinen drei Sprösslingen. Es ist schwer, ihre putzige Art zu schildern. Gundula ist ein resolutes, äußerst selbstständiges Frauenzimmerchen. (Die Tante Inge kennt ihren Lessing und seine "Minna von Barnhelm"...) Sehr unkompliziert, robust und gesund. Sie spricht schon sehr viel, jedes neue Wort macht ihr viel Freude und manchmal zählt sie ihren ganzen Wortschatz hintereinander auf. Ein rechter kleiner Schelm ist sie obendrein, mit viel Humor, aber auch einem handfesten Dickkopf . Hat sie etwas angestellt, so läuft sie von selber ins Winkele. Da kann sie ganz jämmerlich weinen, wobei ihr die dicken Tränen über die Wangen laufen.
 
17. Dezember:

   Waltraut hat sich allen Ernstes vorgenommen, bis Weihnachten ganz brav zu sein, weder zu bocken noch zu sumsen. Es ist ihr den ganzen Tag lang gelungen, obwohl es manchmal sehr schwer war.

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     „Sumsen“ steht nicht im Duden; in Mackensens Deutschem Wörterbuch findet man als Erläuterung „Summen, schwatzen“, was völliger Quatsch ist und zeigt, dass der Herr Mackensen keine Ahnung von der österreichischen Sprache hat, die es ja eigentlich nicht gibt, aber irgendwie dann doch... Im Online-Wörterbuch der österreichischen Sprache (also gibt es die ja doch!) sucht man allerdings auch vergeblich, aber das ist ja auch noch nicht fertig; Sumsen ist auch keine Sauerei, wie einige meinen, die so Sprüche absondern wie „sumsen ist buper“, und auch was die Jazz-Gitti singt, halte ich für sehr fragwürdig:

Wenn mir ois zu ernst wird, und i hab an Grant
denk i an die Sprüche von der Mizzi-Tant.
Denn die gute Dame war nicht ganz normal,
doch ihr Lebensmotto hilft in jedem Fall

(und es geht so)

Refrain:

Steck dir deine Sumsen an den Hut
und dann strusel dich, wirst sehn wie gut das tut...

     Ich will nicht abstreiten, dass das im Einzelfall ja passen mag, aber es erfasst die Bedeutung von „Sumsen“ doch nicht richtig, weil „sumsen“ nämlich so viel bedeutet wie „raunzen, nölen, quengeln“ - also etwas, was typischerweise kleine Kinder tun und was unsagbar nervig ist….

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18. Dezember:

     Die Kinder haben ein Geheimnis. Waltraut fällt es leicht, dichtzuhalten und sie hat oft mit mir eine eifrige Flüsterei. Bei Detlev ist die Sache schon schwieriger. Er hat der Oma Else schon anvertraut:“ Wir dürfen es aber niemandem sagen,“ und dann erzählte er ihr alles im Detail. Ebenso der Oma Frieda. Ich bin neugierig, ob er bis Weihnachten wenigstens Helga gegenüber dicht hält. Die Kinder üben nämlich ein kleines Tanzduett ein.

19. Dezember:

     Beim Frühstück sitzt Gundel mit der Miene eines Feldherrn im großen Lehnstuhl und wartet auf ihr „Milchi". Dann kommt der große Augenblick und sie verschwindet restlos in der großen Tasse und kommt erst wieder zum Vorschein, wenn alles leer ist. Dann erst hat sie Interesse für ihr „Semmi",  von dem sie für jede Faust ein Stückchen bekommen muss, sonst ist sie nicht zufrieden.

    Wenn sie abends nicht einschlafen will, ruft sie in den süßesten Flötentönen:  „Helga“, „Enge“  usw.. - Seit neuestem kann sie auch „Waltraut “sagen

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