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   Deutsche Sauberkeitserziehung - ein Abend füllendes Thema! Muss man wirklich ein nicht einmal zwei Jahre altes Kind strafen, weil es ins Höschen gemacht hat? Dass Kinder so etwas für gewöhnlich nicht aus reiner Bösartigkeit tun, war doch sicher auch dem gesamten erziehenden Personal klar, der Mutti, den Omas, dem Opa, der Tante (alle hatten ja etwas zur Erziehung beizutragen und es ist ein Wunder, dass die Kinder angesichts der vielfältigen Erziehungsversuche nicht als ausgemachte seelische Krüppel in die Welt entlassen wurden.) Warum aber ist ein Kind dann trotzdem „böse“ gewesen, wenn ihm ein kleines Unglück passiert ist? Warum muss es zur Strafe in die Ecke, also an den Pranger gestellt werden?

   Das Gute, behauptete Wilhelm Busch, sei stets „das Böse, das man lässt“, und da das Böse, wie uns die Erste Allgemeine Verunsicherung glaubhaft versichert, „immer und überall“ ist, müsste man es einfach nur immer und überall lassen, um das Gute zu finden, das doch irgendwo lauert und bereit ist sich zu zeigen, weil ja sonst das Böse gar nicht als böse erkennbar wäre. Wer alles aufisst, was auf den Teller gekommen ist, ist gut. Wer mit zwei ins Höschen macht, ist böse. ( Wer allerdings so wie ich mit fünf immer noch ins Bett macht, der ist nicht böse, sondern peinlich, der wird noch nicht einmal mehr bestraft, sondern gedemütigt und mitsamt dem befleckten Leintuch öffentlich zum Trocknen aufgehängt.)
Seit dem Moment, da die frühen Nebel über der Erde sich gelichtet hatten, da Himmel und Wasser geschieden worden waren, da aus einer Mischung aus Siliziumkarbonat und göttlichem Kohlendioxyd Adam entstanden und anschließend mit seinem geschlechtlichen Gegenklon vereint worden war – seit jenem unseligen Moment, da Eva den Einflüsterungen der Schlange erlegen war und nicht richtlinienkonformes Obst gegessen hatte, fragen sich die Menschen mit Recht, was es mit dem Bösen auf sich hat, wo es herkommt und warum es überhaupt da ist und uns das Leben vermiest und Fernseprodukte wie Dieter Bohlen oder Druckerzeugnisse wie BILD zu verantworten hat.

   Wo kommt das Böse her? Streitsucht, Rachsucht, Geiz und Gier brüten es aus, meinen die Afrikaner und weisen entschieden zurück, dass Unheil auf einer höheren, bösen Macht beruhe: Die letzte Verantwortung für Gut und Böse liege vielmehr in den Absichten und Handlungen der Menschen. Die wiederum haben – das behauptet jedenfalls C. G. Jung (und der muss es wissen, weil er ein berühmter Psychologe ist) - unbewusste Anteile des Ur-Bösen an sich in sich. Aber kommt das Böse nicht vielleicht doch von außerhalb, aus der ewigen Spaltung des Kosmos in eine gute und heilige himmlische Welt einerseits und die von Unheilsmächten beherrschte irdische Welt andererseits? Gibt es gar böse Dämonen, die ein unschuldiges Kind dazu verleiten, voller Heimtücke und kalter Grausamkeit die Hose vollzupinkeln?

   Vielleicht gibt es das Böse ja nur, weil den Göttern sonst langweilig wäre? Haben sie sich nicht immer wieder Menschen geschaffen, um endlich ein Gegenüber zu haben, ein Wesen, an dem sie sich abarbeiten, an dem sie sich definieren können? Was nützen schließlich alle die guten Eigenschaften, die Allmacht und Allgegenwart und Allwissenheit und alle anderen Allheiten, wenn keiner da ist, sie zu bewundern und vor der eigenen Unvollkommenheit, Ohnmacht, Unwissenheit zu erschauern? Wer sagt, was gut ist, wenn es nichts Böses gibt, von dem das Gute sich abgrenzen kann?

   Und letzten Endes: Was täten wir Menschen denn vor lauter Langeweile, gäbe es nur Gutes? Immer war das Böse erregender, spannender, saftiger, anschaulicher als das Gute. Was hat Dante denn über den Himmel zu berichten, außer dass da ständig Halleluja gesungen wird und die Seelen ungemein glücklich sind und pausenlos frohlocken, was von ein paar - zugegeben recht hübschen - Farbenspielen begleitet wird? Dagegen die Hölle – was ist ihm da nicht alles eingefallen! Und hören wir nicht fasziniert einem Franz Moor zu, wenn er mit der schneidenden Schärfe seines Verstandes nachweist, warum man weder Vater noch Bruder lieben muss und sie deshalb getrost umbringen kann? Lieben wir nicht heimlich, selbstverständlich mit heftigen Ausdrücken äußerster Abscheu nach außen abgesichert, die großen Verbrecher der Weltgeschichte und –literatur? Und haben wir nicht, nachdem wir pflichtgemäß uns erschüttert über die zunehmenden Perversionen der Menschheit empört haben, voller lustvollem Schauder verfolgt, wie der Kannibale von Rottenburg seinen Internet-Freund entmannt, getötet und gegessen hat?

   Nein, nein, natürlich haben wir das nicht getan, haben uns unserer christlich-humanistischen Erziehung besonnen, sind entsetzt gewesen und haben das Böse in unserem Lebensraum eingegrenzt und beschränkt auf nicht leer gegessene Teller, nicht aufgeräumte Kinderzimmer, nicht gemachte Hausaufgaben, vergessene Geburtstage und volle Höschen.

   Nun bleibt aber doch ein großes Mysterium: Wenn nämlich, wie zunächst vorauszusetzen ist, das volle Höschen das Böse ist, was ist dann das Gute? Das leere Höschen? Ist das Nicht-Seiende, die Abwesenheit von „AA“ oder ,Pipi“ in der Hose, das Erstrebenswerte, die Negation also das Positive, das Nein das Ja? Mir wird ganz schwindelig, wenn ich am Abgrund dieses ungeheuren Denkkraters stehe, taumelnd und im Begriff, mich in mir selbst zu verwirren, doppelhelixartig gedreht und verknäuelt.

     “Du böses Kind,du!“ – Wenn ich das heute wieder lese, überkommt mich eine unbändige Lust, Zeichen zu setzen, mutig die zugemutete moralische Entwertung anzunehmen – kurz und gut: böse zu sein. Erwachsene wie Kinder können hier vorbildlich wirken: Einfach mal als erster zum kalten Buffet stürmen oder das größere Stück Kuchen nehmen, wenn nur noch zwei da sind; als Erwachsener bei Rot über die Straße gehen, vor allem, wenn kleine Kinder in der Nähe sind; als Kind zurück spucken,  wenn irgendeine Tante glaubt, dass man Wert auf ihren feuchten Kuss legt; als Linkshänder nie das schöne Händchen geben, in Gegenwart anderer Leute flüstern; wenn man einen Krimi schon kennt, sollte man allen, die ihn noch lesen oder sehen wollen, schon vorher sagen, wer der Mörder ist; Spargel isst man mit den Fingern, vor allem, wenn es Sauce Béchamel dazu gibt; ziemlich böse ist es, dem Hund sein Hundefutter wegzuessen und als ganz besonders, ja, als abgrundtief böse gilt,  in der Nase zu bohren und die Popel zu essen sowie auf fremden Klos im Stehen zu pinkeln – vor allem, wenn lustige Schilder einem das verwehren möchten; den Osterhasen wie das Christkind abzulehnen, ist auch ziemlich böse und jeden Tag Counterstrike zu spielen ist überhaupt das Aller-Aller-Böseste, noch böser als sich das Bild seiner Freundin auf den Unterschenkel tätowieren zu lassen – und ganz absolut unverzeihlich böse ist es, in die Hose zu machen… Wer das tut, gehört zum Abschaum der Menschheit, zu den Verworfenen, den Ausgestoßenen, den Stigmatisierten, den in den letzten Winkel des Lebens gestellten, zu denen, die es nicht wert sind, Sohn (oder Tochter) der Zivilisation zu heißen…

   Fantasien eines braven Bürgers, dem der schauerliche Abgrund des Bösen schon einmal entgegen gegähnt hat: Nicht des  Bösen, das den fiebrigen Visionen eines George "Dabya" Bush entströmte, sondern des kleinen, in den verborgenen Falten des Alltags eingenisteten, damals in Mils, als wir beim Bauern wohnten und ich fünf oder sechs war. Da wurde ich einmal ins Dorf geschickt, um irgendwelche Kohlköpfe einzukaufen, und dann passierte es auf dem Rückweg. Eine fast unüberschaubare Horde von Dorfbuben stellte sich mir in den Weg - mindestens zwei, vielleicht sogar drei; ganz ehrlich: Ich war damals ein jämmerlicher Feigling, konnte zwar 20 Lateinvokabeln, sah aber im Übrigen in allen fremden Menschen eine Bedrohung. Drohend, so schien es mir, bauten sie sich vor mir auf, "den Pfad mir sperrend und schnaubend: Mord!"
  »Was wollt ihr?« rief ich, vor Schrecken bleich, ich habe nichts als mein Leben und außerdem zwei Kohlköpfe, aber
die muss ich der Mutti geben!"

    Eigentlich wollten sie gar nichts,  sie waren wohl nur erstaunt mich zu sehen - auf dem Dorf kennt man sich halt und wenn da ein neues Gesicht auftaucht, dann möchte man schon wissen, um wen es sich handelt. Aber diese einfachen Zusammenhänge vermochte ich damals in meiner existenziellen Panik nicht zu durchschauen - mich packte die Angst und ehe ich mich's versah, hatte die sich unüberseh- und riechbar in meiner Hose niedergelassen. Während die Dorfbuben sich befremdet und die Nase heftig rümpfend von mir abwandten, in der sicheren Erkenntnis, dass ich für sie als Spielkamerad und mögliches Mitglied der örtlichen Räuberbande nicht in Frage kam, stand ich unschlüssig da - mit der einen Hand die Tasche mit den Kohlköpfen umklammernd, die andere in der Nase (vielleicht kaute ich auch gerade den letzten Rest meiner Fingernägel ab)  und die Hose gefüllt mit den Ergebnissen meines letzten Stoffwechsels.

   Erst nach ein paar qualvollen Minuten entschied ich mich, den Rest meiner bis dahin ja keineswegs zahlreichen Tage nicht auf einer staubigen Dorfstraße zu verbringen, sondern in den Hafen des Elternhauses (genauer: des mütterlichen Zimmerchens) einzulaufen, schlimmer Bestrafung gewiss. Wortlos gab ich die Kohlköpfe ab, wortlos setzte ich mich auf die Küchenbank, wortlos sah ich meiner Mutter bei ihren Kohl-Manipulationen zu. (Dieses Wort ist selbstverständlich nicht als politische Anspielung anzusehen - von Kohl-Manipulationen zu anderen als zu Essenszwecken war zu der Zeit ja nun wirklich noch nichts zu ahnen, schließlich hatte der nachmalige gleichnamige Kanzler ja die Gnade der späten Geburt erfahren.) Wortlos also saß ich da, und als meine Mutter, solches Schweigen von mir nicht gewohnt, gerade besorgt die Mitleidsfrage stellen wollte - "Mein Sohn, was wirret dir? Hast du was?", da entrang sich mir ein schmerzhaft-kummervolles: "Es pickt so!" (Es klebt so.) Und nun kam die Wahrheit und mit ihr auch die an den Pobacken und der Innenseite der Oberschenkel klebende, schon gehärtete bräunliche Masse ans Tageslicht - in beharrlicher Penetranz den kräftigen Kohlgeruch überstinkend.

   Aber da passierte ein Wunder: Weit entfernt davon mich zu beschimpfen, mich "böses Kind" zu nennen, war meine Mutter neben dem Wunsch, die Quelle des Gestanks möglichst bald und nachhaltig zu beseitigen, nur von einem einzigen Gefühl durchdrungen: dem Mitleid. Wasser wurde geholt, gewärmt und in den großen Zuber geschüttet und nach kurzer Zeit war ich wieder gereingt, innerlich und äußerlich, und konnte abends guten Gewissens mein Gebet sprechen: "Ich bin klein, mein Herz ist rein, mein Popo war schmutzig, ist das nicht putzig?". 

   Nicht alle konnten mit solchen Unglücksfällen so besonnen umgehen wie meine Mutter. Noch heute packt mich die Wut, wenn ich an jenen Krankenpfleger denke, der mir nach dem Schlaganfall meines Vaters vorwurfsvoll dessen beschmutzte Wäsche entgegen streckte mit den überaus warmherzigen Worten: "Jetzt hat er sich auch noch voll gemacht..." So tief war deutsche Sauberkeitserziehung in diesen Menschen eingedrungen, dass er es offenbar als persönliche Kränkung ansah einen Patienten betreuen zu müssen, der nicht mehr Herr seiner Körperfunktionen war -

   Mein Vater hat es nicht mehr mitbekommen – er ist drei Tage danach gestorben, bis zuletzt betreut von einem liebevollen und einfühlsamen Pfleger aus Ghana. Am deutschen Wesen soll die Welt genesen, hieß es einmal - wie gut, dass es nicht so weit gekommen ist...


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