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- 236 -


 April:

     Mitunter, wenn das Essen knapp ist, behauptet Mutter, sie sei schon satt; sie ist deshalb schon oft von mir beschimpft worden. Als neulich Waltraut ihren Haferbrei ausgelöffelt hatte, wollte ihr Mutter etwas von ihrem Teller abgeben.       
     „Nein, Oma, das musst du essen“, sagte Waltraut standhaft, aber auf ihrem ehrlichen Gesicht stand deutlich das Verlangen.
     „Du kannst wirklich etwas von mir haben. Ich habe genug“, behauptete Mutter.
     „Oma, ich kenn dich doch!“, meinte Waltraut altklug. Aber schließlich ließ sie sich dann doch überreden.
      Waltraut spricht jetzt ein Tischgebet, das Vater vor Jahren für die Es­sener Kinder verfasst hat. Sie spricht es mit so viel Sammlung und Ausdruck, dass Vater wohl seine helle Freude an ihr hätte, wenn er sie so sehen könnte.

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    Detlev hat kürzlich Gundel auf eigene Faust spazieren geführt. Sie gingen auf der Reichsstraße gegen Volders hin: Detlev ging behutsam ganz am Rand und fühlte sich restlos als der große und beschützende Bruder mit der kleinen Gundi an der Hand. Es war ein herziges Bild, das Mutter Bauer beobachtete, gleichwohl musste man ihm solche Unternehmungen untersagen.

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    An meinem Geburtstag wurde Mutters und mein Geburtstag zugleich gefeiert. Da hat sich Helga eine wunderschöne Überraschung ausgedacht: Die drei Kinder kamen als Märchengestalten verkleidet und brachten ihre Gaben. Waltraut trug ein langes weißes Kleid, ihr aufgelöstes Haar war durch ein blaues Band zusammengehalten. In den Händen hielt sie eine Schale mit Zucker. Lieb und anmutig wie Schneewittchen, gesammelt und ganz ihrer Aufgabe hingegeben, trat sie vor und sprach ihre Verse sehr ausdrucks­voll:

                       „Weit komm ich her dort von den sieben Bergen
Und bringe Grüße auch von meinen sieben Zwergen.
Sie haben mir ganz wichtig aufgetragen,
auch ihre besten Wünsche heut’ zu sagen.
Sie haben tief geschürft in Fels und Stein,
um euch zu schenken Gold und Edelstein,
Und plötzlich fanden sie zu ihrer Freud
Den Diamanten unsrer heut’gen Zeit.
Den bring ich euch nun voller Liebe dar
und wünsche euch noch viele schöne Jahr’!“
 

     „Jetzt komm ich!“ sagte Detlev keck. Er hatte ein kurzes Höschen mit Hosenträgern und ein Hemd an und hatte ein schneidiges Hütchen auf. Seine Augen blitzten unternehmend und frisch und so war er ein bildhübscher Hans im Glück, der ein Säckel auf dem Rücken trug. Er sprach:

„Ich bin gewandert viele, viele Meilen
und nirgends konnt ich lange Zeit verweilen
Mein Klumpen Gold, die Kuh und auch das Pferd
und alles andre war mir nicht so wert,
dass ich es nicht hab freudig lassen stehn,
um euch an eurem Festtag noch zu sehn
und euch zu wünschen, dass ihr auf der Erden
                     wie ich ein Hans im Glück mögt werden.“

     Damit lud er schwungvoll seinen Sack auf den Geburtstagstisch, dass das Mehl herausstäubte.

     Gundel saß inzwischen auf dem Stuhl, schaute im Zimmer herum und baumelte mit den Beinen Ihr rotes Käppchen, das Körb­chen in der Hand und der mächtige Blumenstrauß ließen gar keinen Zweifel an ihrer Person aufkommen. Sie war gar nicht recht bei der Sache und sagte ihr Verslein nur so nebenbei:

 „Vom grünen Walde komm ich her,
ach Gott, was bin ich gelaufen sehr,
um diesen schönen Frühlingsblumenstrauß
   zu bringen hierher ins Geburtstagshaus.
Doch schließt nur schnell die Tür, ihr Lieben mein,
und lasst mir nicht den bösen Wolf herein.“

     Später, bei holderer Stimmung, trug sie ihr Sprüchlein noch einmal vor und zog dabei alle Register ihrer Schauspielkunst. Bei der letzten Zeile hob sie drohend den Finger und hob die Spannung durch eindrucksvolle Kunstpausen bis zum Höhepunkt.

     Nachdem die Kinder Kakau und Kuchen gehabt hatten, zogen sie fröhlich in den Garten. Heinzel beanspruchte seine geliebte Gundel ganz für sich, was sie sich huldvoll gefallen ließ Als gegen Abend Lili, des Küsters Tochter, Gundi an der Hand nahm und hinaufbrachte, fing der stürmische Liebhaber zu toben an: „Du hast mir meine Gundi weggenommen! Das ist meine Gundi!“ Dazu schrie er so ungebärdig, dass er von seinem Vater eins drauf bekam.

       Glücklicher war er, als er mit seinen Eltern zum Abschiedsbe­such nach Mils kam. Als ob Gundel ahnte, dass es zum letzten Mal sei, bot sie Heinzel beim Abschied ihr Mündchen zum bräutlichen Kuss dar.
     Und sie ist ihm auch treu! Einige Tage später war sie mit Mutter Bauer in Hall beim Einkaufen. Dort trafen sie mit einer Bekannten zusammen, die ein kleines Bübchen bei sich hatte. Das Kind fing so fort heftig an, Gundel zu umwerben, die aber spröde vor ihm zurückwich. Nichts als Abwehr stand in ihren großen Augen. Nun wollte er die Spröde mit Geschenken gewinnen und kramte kleine Steinchen aus seiner Tasche hervor, die sie wohl annahm, aber trotzdem aus ihrer Zurückhaltung nicht herausging.
     „Gundula“, sagte Mutter Bauer erklärend zu der Bekannten, „Gundula ist nämlich verlobt.“
     Ach so“, meinte die Dame darauf, „das ist dann allerdings etwas anderes.“
 

2o. April:

     Waltraut sollte nun einmal allein von Hall nach Innsbruck fah­ren. Es ergab sich aber im letzten Augenblick, dass ich Helga etwas Dringendes auszurichten hatte und so fuhr ich doch nach Hall und dachte, dass Waltraut froh sein würde, wenn sie nicht allein zu fahren brauche.
     Da stand sie schon erwartungsvoll mit Helga an der Haltestelle, das Fahrgeld krampfhaft in der Faust haltend.
     Jetzt ist Waltraut aber enttäuscht, dass sie nicht allein fah­ren kann“, meinte Helga.
     Ich erklärte sofort, dass ich ja keinesfalls wegen Waltraut gekommen sei. Und dann stiegen wir ein. Waltraut schlüpfte schnell vor mir in den Wagen und setzte sich schnell auf einen leeren Sitz. Ich ver­stand ihre Absicht, ging an ihr vorbei und setzte mich ganz woanders hin. Als der Schaffner kam, löste sie ihre Fahrkarte selbstständig wie eine Große und wir fuhren wie zwei Fremde, völlig getrennt. Erst beim Aussteigen trafen wir uns an der Tür. Doch da griff sie gern nach meiner Hand.
     Mittlerweile ist dieser Selbstständigkeitsrausch schon wieder ein wenig verflogen...

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     Und nun hat der Vati so eine schöne Karte zu Ostern geschickt! Waltraut sagt nicht viel, aber lächelnd schaut sie darauf hin. Und dann will sie ihren Schatz ihren Schulfreundinnen zeigen und der Schwester. Aber nachher hat dieser Flederwisch die Absicht wieder vergessen.