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    Olga war ein – sagen wir mal – eigenwilliger Mensch mit einigen überraschenden Eigenschaften. So bestand sie darauf, dass wir morgens zur Begrüßung stehend im Chor „Grüß Gott, Frau Lehrer!" anstimmten. Mit der heutzutage im Zuge der Emanzipationswellen geforderten weiblichen Endung hatte sie nichts am Hut. (Übrigens habe ich in diesem Zusammenhang eine bemerkenswerte Erfahrung gemacht: Ich selbst musste ja an allen möglichen Orten von Lehrerinnen und Lehrern, von Schülerinnen und Schülern, von Dezernentinnen und Dezernenten sprechen, von Elterinnen und Eltern – nein, das stimmt nicht, wohl aber stimmt, dass es Ausbildungslehrergutachten und Ausbildungslehrerinnengutachten und Schülerzeitungsredakteurinnen und Schülerzeitungsredakteure und sogar Bundeskanzlerinnen und Bundeskanzler gibt, und als ein ausgewiesener promovierter Dezernent in der Gewerkschaftszeitung etwas über die „Mitgliederinnen und Mitglieder“ schrieb, ist mir, ehe mich der Zorn packte, zum Trost gerade noch Karl Valentins Begrüßung eingefallen: „Liebe Gästinnen und Gäste…“ Der hatte wenigstens noch Humor!

    Ja, und dann hörte ich die siegreichen Biathletinnen über ihre Konkurrenten – nicht Konkurrentinnen! – sprechen, und das klang etwa so: „Ja, die Russen haben eine gute Staffel, sie sind ziemlich sichere Schützen und auch gute Läufer…“ – und dabei war doch nur von Frauen die Rede!)

   Olga also kümmerte sich absolut nicht um die Frage korrekter Berufsbezeichnungen – sie hatte andere Kampffelder: Wenn der Besuch des Schulinspektors drohte, pflegte sie flugs einen Ausflug anzumelden, um so der Inspektion zu entgehen.

     Ihre bemerkens- und rühmenswerteste Eigenschaft aber war, dass sie mich liebte – in der gebotenen katholischen Keuschheit, versteht sich, aber doch unübersehbar. Diese Liebe verbot es ihr, mich irgendwelchen Gefahren auszusetzen, wie sie zum Beispiel vom schulischen Völkerballspiel in reichem Maße ausgingen. Bei diesem rohen Sport galt es, die Spieler der gegnerischen Mannschaft durch heftiges Bewerfen mit dem Ball auszuschalten, und der Eliminierung entging man nur, wenn es einem gelang, rechtzeitig auszuweichen oder den Ball zu fangen, was für mich nicht in Frage kam, weil ich viel zu viel Angst vor dem Spielgerät hatte. Eine solche Bedrohung meiner körperlichen Unversehrtheit also ersparte sie mir, indem sie mich einlud, neben ihr leicht erhöht auf den Stufen der Turnhallentür zu sitzen, während die Mitschüler ihre rohen Kräfte maßen. Wenn wir dann so nebeneinander saßen und dem Spiel zusahen, raunte sie mir halblaut zu: „Mir sein narrisch!" (Wir sind verrückt, blöd, wahnsinnig, auf jeden Fall psychisch irgendwie aus den Fugen) und setzte dabei eine Art Grinsen auf, das den Wahrheitsgehalt der eben gemachten Feststellung zu bestätigen schien.

     Nun muss man ihr aber zugute halten, dass sie noch sehr jung war, knapp über zwanzig. Das ging damals in Österreich – man besuchte nach der Matura, der Reifeprüfung, zwei Jahre die Lehrerbildungsanstalt und schon war man Volksschullehrer („Frau Lehrer"). Weil Olga also noch so jung war und Anfängerin und sechsundvierzig muntere Buben, die auch nicht alle aus den besten Häusern kamen, im Zaum halten musste, neigte sie zu eher radikalen pädagogischen Methoden und körperlichen Ermahnungen. Kurz: sie schlug, und zwar nicht einfach so mit der Hand, sondern mit dem Stock. Das war kein Rohrstock, sondern ein echter Tiroler Knüppel, mindestens anderthalb Meter lang und von sehr solider Beschaffenheit. Damit gab es die so genannten „Patzen" – Schläge auf die Hand. (Wie blöd manche dieser sechsundvierzig Buben waren und wie verdient deshalb ihre Züchtigung, kann man daran sehen, dass sie, wenn es ans Bestraft werden ging, die Oberseite der Hand hinhielten, die Seite also, auf der es besonders weh tut, weil der Knüppel da ja auf eine Reihe fast ungeschützter Knochen trifft.)

 
Knabenvolksschule Solbad Hall in Tirol, Klasse 2 B, 43 Kinder + Lehrerin Olga
     Olga also schlug mit Begeisterung, die Buben nahmen es mit minderer Begeisterung hin, und die Knüppel nutzten sich ab. Deshalb beschloss ich eines Tages, eingedenk meiner erfolgreichen Holzsammelaktion im Pfarrhaus in Innsbruck, auf dem langen Schulweg von Mils nach Hall Stöcke für Olga zu sammeln – als Liebesbeweis, sozusagen, denn die Liebe war durchaus gegenseitig. Das Unternehmen wurde ein Teilerfolg – ich brachte es tatsächlich auf einen schönen Strauß von Stöcken unterschiedlichster Länge und Holzart, aber die Sammelaktion hatte doch mehr Zeit gekostet, als ich veranschlagt hatte, und so kam ich reichlich zu spät zu ersten Stunde. Aber noch ehe Olga die Möglichkeit hatte, eine rügende Bemerkung loszulassen,  setzte   ich  meine jammervollste  Miene  auf und erklärte  schluchzend:  „Ich hab’ so weit!"
    Dies wurde von einem
Mitschüler, der zum Glück noch nicht begriffen hatte, wozu die von mir mitgebrachten Stöcke dienen sollten, unverzüglich bestätigt, ja, er verlegte meinen Wohnsitz sogar noch ins 5 Kilometer weiter entfernte Dorf Volders.
     Olga war erschüttert. Vor ihrem vormütterlichen Auge erschien das Bild ihres gemarterten Lieblings- schülers,  der allein durch Nacht und Eis stapft,  Kilometer um Kilometer hinter sich bringend,  um sein
junges Köpfchen mit den Bildungsinhalten zu füllen, die sie anzubieten wusste. Und so strich sie mir denn tröstend über ebendieses junge Köpfchen, nahm dankend die Stöcke entgegen, hat sie aber, soweit ich mich erinnere, dann doch nicht zur Züchtigung meiner Mitschüler eingesetzt, sondern vermutlich verheizt...