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Ich über mich Olympia 1972
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10 März:
       Gundula ist  wieder fast gesund  - und das bedeutet höchste Alarmstufe, denn sie macht sich unverzüglich wieder daran Chaos zu stiften.  Eine kleine Weile nur war sie allein - und was hat sie da inzwischen nicht alles angestellt! Zu­nächst hat sie das Wasser aus der Blumenvase getrunken, dann hat sie den Stuhl an das Regal gestellt und sich die Sachen heruntergeholt, die vor ihr versteckt sind. Dass ihr dabei im Eifer das Höschen nass wurde, muss man ja wohl einsehen. Leider hat sie auch den Puder verschüttet, von dem sie schließlich über und über bedeckt war. So fand Helga sie inmitten der  eifrigsten Tätigkeit. Währen die Mutti nun dabei war, den Schaden gut zu machen, schimpfte sie vor sich hin: „Es ist doch ein schreckliches Kind! Keinen Augenblick kann man sie allein lassen! Ach—!“ “ Gott!", fügte Gundel hinzu.
 
     Waltraut wiederum ist immer noch ein eitles Äffchen. Sie sollte sich abends, als sie aus dem Bad kam, ihr Bettjäckchen anziehen. „Nein, nicht das Bettjäckchen, die rote Jacke will ich anziehen“  - und schon wollte sie eine Szene heraufbeschwören. “Waltraut, du bist wirklich ein schrecklich eitles Äffchen. Da musst du aufpassen, dass Dir nicht eines Tages ein wirklicher Affenschwanz wächst.“
     Sie schaute mich ungläubig an.
     „Ja, ein richtiger langer Schwanz mit einer Quaste dran. Da muss dir dann die Oma einen Schlitz machen, damit du den Schwanz heraushängen lassen kannst. Stell dir vor, wie dich dann die Kinder in der Schule auslachen werden!“ 
“Oh, den Schwanz schneiden wir halt ab!“ meinte sie leichthin.
“ Der wächst aber wieder nach!“ sagte die Oma Else.
 
     Da wurde Waltraut doch sehr bedenklich und ich musste ihr genau erklären, wieso denn ein gerade abgeschnittener Schwanz wieder nachwachsen könne. Ich hätte ihr ja die Geschichte von der neunköpfigen Hydra erzählen können, der immer zwei Köpfe nachwuchsen, kaum dass einer abgeschlagen worden war, aber ich glaube, dann hätte sie wohl ein paar unruhige Träume und wir ein paar unruhige Nächte gehabt – so wählte ich als Beispiel aus der Natur doch lieber die Eidechse, vergaß aber nicht darauf hinzuweisen, dass Kinder, die aus experimentellen Gründen einer Eidechse den Schwanz ausreißen, voraussichtlich in die Hölle kommen. Ob diese pädagogische Vorsichtsmaßnahme Wirkung zeigt, wird sich in den nächsten Jahren erweisen müssen...
 
11. März:
     Gundels Genesung ging doch nicht so schnell - sie war heute krank und raunzig, weil sie husten musste und außerdem allein im Zimmer bleiben sollte, wo es nicht nur ungeheuer langweilig, sondern auch eiskalt war. Und so wurde beschlossen, ihr Bettchen in die Veranda zu schieben, denn dort war geheizt und außerdem konnte sie sich mit den andern Kindern unterhalten. Das gefiel ihr ausnehmend gut, insbesondere, als auch der kleine Heinzel da war. Sie rief ihn zu sich. Als er nicht gleich kam, donnerte sie ihn an: “Heinzi, folg!“

     Köstlich war die Wirkung  dieser energischen Aufforderung auf die anderen Kinder. Vor allem Waltraut wollte sich ausschütten vor Lachen. Und Gundel fühlte sich äußerst wichtig als Mittelpunkt. —   Waltraut zeigt ja ihrer kleinen Schwester gegenüber die mitunter ziemlich penetrante Große-Schwester-Überheblichkeit. Wenn sie mit Gundel redet, so verfällt sie in einen herablassend mütterlichen Ton. Ihre Stimme wird dann ganz weich und warm, wenn sie etwa sagt:“ Komm, kleine Gundi, tu schön brav dich hinsetzi...“
Ob das für Gundels Sprachentwicklung besonders förderlich ist, kann bezweifelt werden...
 
12. März:
     Jetzt können die Kinder wieder in den Garten. Waltraut, die wilde Hummel, ist natürlich dauernd verschwunden und erscheint nur aufgelöst mit zerzaustem Haar. Mit großem Eifer sammeln die Kinder Holz, und Detlev erscheint alle paar Minuten, um unsern Haushalt mit eini­gen armseligen Hölzchen zu beliefern. Er ist ganz voll Eifer, so dass er es zuerst gar nicht merkt, dass er bei den Großen gar keine Gegen­liebe findet, weil man ihm andauernd die Tür öffnen muss. Nun ist er sehr betroffen, als Mutter Bauer ihm das andauernde Heraufkommen verbietet, wo er doch mit solch gutem Willen das Holz heranbrachte. Als ich ihm nun vorschlug, das Holz auf einen großen Haufen zusammen zu sammeln, leuchtete ihm das sehr ein und er verschwand glücklich. Waltraut, das umsichtige Hausmütterchen, meinte:“ Wir sammeln jetzt viel Holz, damit wir nimmer frieren brauchen, wenn wieder einmal Kurzschluss ist und die Höhensonne nicht brennt!“  
       Wir hatten nämlich gestern in der ganzen Wohnung Kurzschluss, was den Kindern großen Eindruck machte.
 
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     Früher, als bekanntlich alles besser war, war auch ein Kurzschluss ein Ereignis (heute würde man natürlich Event dazu sagen, so wie jede Pfarr-Disco ein Event ist und ein Mega-Event, wenn der Wolfgang-Petry-Imitator dabei persönlich auftritt). Ein Kurzschluss also war damals etwas Besonderes, etwa Einschneidendes, etwas, das dem Menschen seine Ohnmacht aufs eindringlichste vor Augen führte. Zuerst einmal gab es einen heftigen Knall und dann legte sich Finsternis über die Erde - oder doch zumindest den Teil, den wir bewohnten. Nach den ersten Schreckensäußerungen folgten Vermutungen über den Ursprung der Katastrophe - Bomben? französische Heimtücke? Sparmaßnahmen? - , ehe eine beherzte Person sich aufmachte, um in der sich nur allmählich lichtenden Dämmerwelt nach einer Kerze und Streichhölzern zu suchen. Während Fledermäuse elegant Hindernisse umkurven, mit unheimlicher Präzision durch die Nacht navigieren; währen Elefantenfische im schwärzesten Schlammschwarz mit tödlicher Sicherheit ihre Beutetiere finden, indem sie elektrische Felder erschaffen und erfühlen, mussten wir, das heißt Mutter, Oma, Opa oder Tante, durch die Wohnung tapsen, immer auf einen schmerzhaften Zusammenstoß mit einem unerwarteten Schrank, einer tückischen Tischkante, einer vorsätzlich offen stehenden Schublade gefasst. Waren aber alle Hindernisse ohne größere Verluste überwunden und der passende Schrank erreicht, musste dort eine Ersatz-Sicherung gefunden werden - das war etwas, was ungefähr wie eine sehr gut ernährte Autozündkerze aussah. Damit bewaffnet, stieg man in den Keller, tastete im Dunklen, in das der schwache Schein der Kerze nur kläglich flackernde Lichtlöcher schnitt, nach dem Sicherungskasten und fahndete nach der defekten Sicherung. Die war ja doch herausgesprungen und musste demnach als etwas Vorspringendes zu fühlen sein. Dieses vorspringende Teil drehte man nun heraus und die neue Sicherung hinein - und hoffte, dass sie nicht sogleich wieder in ihrer unberechenbaren Bosheit herausspringen würde. Wenn das Licht dann wiederkam, wurden noch lieblos und ohne großes Engagement gegenseitige Vorwürfe ausgetauscht - "Du musst ja auch nicht so lange die Höhensonne anlassen!" - "Die war das überhaupt nicht, das war das blöde Bügeleisen, ich sag doch schon seit Jahren, dass das kaputt ist!" - und dann konnte man wieder zur Tagesordnung übergehen und sich der Frage widmen, wie viel Holz wohl noch gesammelt werden sollte und wie man den sammelfrohen Sohn in seinem Tatendrang bremste, ohne ihn völlig zu entmutigen.

     Mich beschleicht der Verdacht, dass meine ausgeprägte Neigung zum Hamstern und Sammeln auf diesen frühkindlichen Versorgungsengpässen beruht.  Wenn die Menschheit seit den frühen Tagen des aufrechten Gangs in Jäger und Sammler einzuteilen war, dann gehöre ich ohne jeden Zweifel zur zweiten Kategorie: Fast nichts entging meiner Sammelwut - Bierdeckel und Apfelsineneinwickelpapier, Maikäfer und FußballHandballKinoTheaterKonzertEintrittskarten, U-Bahn-Fahrscheine und Ansichtskarten, Schnapsportionsfläschchen und Theaterprogramme, die "Illustrierte Filmbühne" und Abzeichen von Sportvereinen, James-Bond-Filme und Biergläser - überwiegend geklaute, weshalb der Herr in seinem Grimm (oder welche Instanz auch immer dafür zuständig war), mich eines Nachts verdientermaßen bestrafte: Von einer Explosion aus dem Schlaf und vermutlich lieblichen Träumen gerissen - zumindest schien mir, das Geräusch könne nur von einer mörderischen Explosion stammen -  torkelte ich in mein Arbeitszimmer und musste entsetzt feststellen, dass das nur unzureichend mit Schrauben statt mit Dübeln in die Wand eingelassene Regal mit all den schönen, unter so großen Mühen und Gefahren gestohlenen Biergläsern aus DeutschlandÖsterreichBelgienFrankreichHollandEngland in einem Meer von Scherben auf dem Teppichboden lag. Nur ein Glas war heil gebleiben: Ein dickes Henkelglas "Bière du Cardinal" aus Genf - das hatte ich bei meinem Abschied aus der Schweiz 1966 für 2 Schweizer Franken gekauft. Will da noch jemand bezweifeln, dass nur recht Gut gedeiht?

     Einige dieser Sammlungen dämmern auch heute noch vor sich hin, ebenso wie die Briefmarken, die in nicht unbeträchtlicher Menge auf ihre Ablösung vom Umschlag mit Hilfe von leicht angewärmtem, mit einem Schuss Essig versehenen Wasser und der nachfolgenden Einsortierung in verschiedene Alben warten - eine Aufgabe, die ich in der Zeit meines Ruhestandes anzugehen entschlossen bin, denn dies ist eine für einen Pensionisten absolut angemessene Betätigung, so wie der Aufenthalt auf einer der braunen oder grünen Parkbänke, welche gerne von der Sparkasse, der örtlichen Kaufmannsvereinigung, dem Seniorenbeirat oder einer anderen gutherzigen, zur Mildtätigkeit neigenden Organisation gestiftet werden und zum müßigen Ausruhen und Schauen einladen (wobei immerhin zu erörtern wäre, wovon die müßiggehenden Pensionisten sich eigentlich ausruhen müssen...).

     Das Holz sammeln habe ich im Übrigen bis in die frühen Schultage hinüber gerettet, und das hatte mit Olga zu tun. Olga nämlich, Olga, die Taube, war meine Volksschullehrerin. Sie stammte aus der Brenner-Gegend, trug folglich einen wunderschönen italienischen Namen, hatte eine ebenso wunderschöne Handschrift und malte eigenhändig wunderschöne Fleißkärtchen mit wunderschönen Aufschriften wie "Dem braven Kinde", die vorzugsweise wunderschöne lockige kleine Mädchen am lauschigen Bach oder schmucke fröhliche Wanderbuben in grüner Au zeigten. Diese von Olga persönlich angefertigten Fleißkärtchen gab es nur bei ganz besonderen Leistungen, und man musste sich
schon vorher mindestens drei Heiligenbildchen verdient haben - konfektionierte Massenware freilich, von der katholischen Kirche kostenlos überlassen, aber von erstaunlich geringem ästhetischen Reiz, wenn man sie an Olgas Fleißkärtchen maß.

     Olga war ein - sagen wir mal - eigenwilliger Mensch mit einigen überraschenden Eigenschaften. So bestand sie darauf, dass wir morgens zur Begrüßung stehend im Chor "Grüß Gott, Frau Lehrer!" anstimmten. Wenn der Besuch des Schulinspektors drohte, pflegte sie flugs einen Ausflug anzumelden, um so der Inspektion zu entgehen. Ihre bemerkenswerteste Eigenschaft aber war, dass sie mich liebte - in der gebotenen katholischen Keuschheit, versteht sich, aber doch unübersehbar. Diese Liebe verbot es ihr, mich irgendwelchen Gefahren auszusetzen, wie sie zum Beispiel vom schulischen Völkerballspiel in reichem Maße ausgingen. Bei diesem rohen Sport galt es, die Spieler der gegnerischen Mannschaft durch heftiges Bewerfen mit dem Ball auszuschalten, und der Eliminierung entging man nur, wenn es einem gelang, rechtzeitig auszuweichen oder den Ball zu fangen, was für mich nicht in Frage kam, weil ich viel zu viel Angst vor dem Spielgerät hatte. Eine solche Bedrohung meiner körperlichen Unversehrtheit also ersparte sie mir, indem sie mich einlud, neben ihr leicht erhöht auf den Stufen der Turnhallentür zu sitzen, während die Mitschüler ihre rohen Kräfte maßen. Wenn wir dann so nebeneinander saßen und dem Spiel zusahen, raunte sie mir halblaut zu: "Mir sein narrisch!" (Wir sind verrückt, blöd, wahnsinnig, auf jeden Fall psychisch irgendwie aus den Fugen) und setzte dabei eine Art Grinsen auf, das den Wahrheitsgehalt der eben gemachten Feststellung zu bestätigen schien.

     Nun muss man ihr aber zugute halten, dass sie noch sehr jung war, knapp über zwanzig. Das ging damals in Österreich - man besuchte nach der Reifeprüfung zwei Jahre die Lehrerbildungsanstalt und schon war man Volksschullehrer ("Frau Lehrer"). Weil Olga also noch so jung war und Anfängerin und einundfünfzig muntere Buben, die auch nicht alle aus den besten Häusern kamen, im Zaum halten musste, neigte sie zu eher radikalen pädagogischen Methoden und körperlichen Ermahnungen. Kurz: sie schlug, und zwar nicht einfach so mit der Hand, sondern mit dem Stock. Das war kein Rohrstock, sondern ein echter Tiroler Knüppel, mindestens anderthalb Meter lang und von sehr solider Beschaffenheit. Damit gab es die so genannten "Patzen" - Schläge auf die Hand. (Wie blöd manche dieser einundfünfzig Buben waren, kann man daran sehen, dass sie, wenn es ans Bestraftwerden ging, die Oberseite der Hand hinhielten, die Seite also, auf der es besonders weh tut, weil der Knüppel da ja auf eine Reihe fast ungeschützter Knochen trifft.)

     Olga also schlug mit Begeisterung, die Buben nahmen es mit minderer Begeisterung hin, und die Knüppel nutzten sich ab. Deshalb beschloss ich eines Tage, eingedenk meiner erfolgreichen Holzsammelaktion im Pfarrhaus in Innsbruck, auf dem langen Schulweg von Mils nach Hall Stöcke für Olga zu sammeln - als Liebesbeweis, sozusagen, denn die Liebe war durchaus gegenseitig. Das Unternehmen wurde ein Teilerfolg - ich brachte es tatsächlich auf einen schönen Strauß von Stöcken unterschiedlichster Länge und Holzart, aber die Sammelaktion hatte doch mehr Zeit gekostet, als ich veranschlagt hatte, und so kam ich reichlich zu spät zu ersten Stunde. Aber noch ehe Olga die Möglichkeit hatte, eine rügende Bemerkung loszulassen, setzte ich meine jammervollste Miene auf und erklärte schluchzend: "Ich hab so weit!" Dies wurde von einem Mitschüler, der einfach noch nicht begriffen hatte, wozu die von mir mitgebrachten Stöcke dienen sollten, unverzüglich bestätigt, ja, er verlegte meinen Wohnsitz sogar noch
weiter, ins 5 Kilometer  entfernte Dorf Volders.

     Olga war erschüttert. Vor ihrem vormütterlichen Auge erschien das Bild ihres gemarterten Lieblingsschülers, der allein durch Nacht und Eis stapft, Kilometer um Kilometer hinter sich bringend, um sein junges Köpfchen mit den Bildungsinhalten zu füllen, die sie anzubieten wusste. Und so strich sie mir denn tröstend über ebendieses junge Köpfchen, nahm dankend die Stöcke entgegen, hat sie aber, soweit ich mich erinnere, dann doch nicht zur Züchtigung meiner Mitschüler eingesetzt, sondern vermutlich verheizt...

   
Das Sammeln von Schlagstöcken war indes nur eine vorübergehende Verirrung – andere Sammelobjekte drängten sich später in den Vordergrund, und das Allerschönste ist zweifellos meine Sammlung von Schneekugeln.

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