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31. Jänner

    Ich bin wirklich eine geplagte Tante! Ahnungslos hatte ich den Kindern versprochen, ihnen abends vor dem Einschlafen das Lied von den zehn kleinen Negerlein vorzusingen. Ich setzte mich an Waltrauts Bett - und damit mich Detlev im Nebenzimmer auch gut hören konnte, sang ich recht laut:  „Zehn kleine Negerlein, die spielten…“

     Aber ich kam nicht weit, denn da wurde ich energisch von Gundel angefahren: „Ruhig!“, und als ich mit Rücksicht auf Detlev nicht sofort die Stimme dämpfte, kam es noch lauter:  „Ruhig!“ 

     Aber wehe!, wenn ich zu singen aufgehört hätte! Sofort hätte dann Waltraut ihr übliches Sirenengeheul angestimmt. So sang ich ganz leise weiter. Waltraut war es zuerst nicht recht, sie ließ sich aber besänf­tigen. Dabei hatte ich noch Glück, dass Detlev nicht sofort in ein jammer­volles Wehgeschrei ausbrach.  Ich musste ihm versprechen, ihm das Lied nach­her noch besonders vorzusingen, damit war er zunächst zufrieden.
 
     Also : „Zehn kleine Negerlein…“ -  und dann waren sie alle tot bis auf einen. Waltraut war entzückt, ich musste ihr das Lied gleich noch einmal vorsagen. Gundel war inzwischen glücklicherweise eingeschlafen, nachdem sie während meines Gesanges noch einige Male beifällig: „’eita“ gerufen hatte. Nun ließ ich die zehn Negerlein gleich noch einmal sterben - bis auf eines ‚ versteht sich.
 
     Inzwischen kam das schon längst gefürchtete Wehgeheul von Detlev:  „Tante Inge, du musst kommen!“, das aber vom erbosten Opa niedergedonnert wurde. Waltraut war aber beileibe noch nicht zufrieden. Jetzt sollte ich das Lied unbedingt in umgekehrter Reihenfolge hersagen:  „Ein kleines Negerlein... Zwei kleine Negerlein...“, übrigens eine ziemlich schwierige Gedankenübung.
 
     Jetzt wechselte ich zu Detlev hinüber. Dort kam ich etwas billiger weg. Einmal singen und einmal hersagen genügten. Beim dritten Mal sprachen Detlev und Waltraut den Text mit.
 
     Und dann angelte Waltraut noch einmal nach mir und nachdem wir die zehn kleinen Negerlein fünfmal hatten sterben lassen, war ich endlich ent­lassen, War ich froh, als ich merkte, dass Waltraut nicht mehr an das Lied dachte am nächsten Morgen. Und ich werde mich hüten, daran zu rühren.
 
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     Tja, die zehn kleinen Negerlein – ein politisch natürlich durch und durch unkorrektes Lied, aber hat uns denn die „political correctness“ so viel weiter gebracht? Wird das Elend in Afrika gemildert, wenn wir jetzt auf einmal singen: „10 kleine Afrikanerlein?“ Sind Asylbewerber und Einwanderer aus schwarzafrikanischen Ländern besser integriert, wenn wir nicht mehr aus dem „Struwwelpeter“, diesem gut gemeinten, aber pädagogisch gelegentlich höchst fragwürdigen Kinderbuch, zitieren: „Es ging spazieren vor dem Tor ein kohlpechrabenschwarzer Mohr?“ Muss man jetzt sagen „ein kohlpechrabenschwarzer Farbiger“? Ein schwarzer Farbiger? Blödsinn – ein Widerspruch in sich selbst: Entweder schwarz oder farbig. Also „ein kohlpechrabenschwarzer Afrikaner“? Reimlich und rhythmisch indiskutabel. Der da vor dem Tor spazieren ging und nichts dafür konnte, dass er nicht so weiß war wie die bösen Buben, die vom Nikolaus mit Recht in das große Tintenfass getaucht wurden, bleibt ein Mohr. Bei Schiller heißt es schließlich auch weiterhin: „Der Mohr hat seine Arbeit getan, er kann gehen“, denn dass alle Menschen Brüder werden, hat er erst viel später gemerkt. Und wenn der Mitteldeutsche Rundfunk meldet: „Hausdurchsuchung bei Mohren“, dann kann er den Namen des so heimgesuchten ehemaligen Sportchefs Winfried Mohren ja auch nicht um der politischen Korrektheit willen in Schwarzafrikaner ändern.
 
     Sicher, als jüngst die Moosburger Zeitung zu berichten wusste, dass nach dem Flugzeugabsturz „die Löschzüge sofort zur Stelle“ gewesen seien, da man Menschen in dem brennenden Flugzeug vermutete und dann erleichtert feststellte: „Glücklicherweise waren nur einige Putzfrauen an Bord“, da war das schon hart an der Grenze zur politischen Unkorrektheit und man sollte das entschieden missbilligen (oder den Redakteur zumindest wegen sehr schlampigen Umgangs mit der Sprache tadeln), aber muss man denn so viel Angst vor der Wirklichkeit haben, dass man als Reporter beim Fußballspiel zwischen Deutschland und Ghana sagt: „Die afrikanischen Spieler erkennen Sie an den gelben Stutzen“? Vielleicht nicht doch auch an der Hautfarbe? Sicher, die „Negerküsse“ oder „Mohrenköpfe“ sind inzwischen zu Schokoküssen mutiert und das ist auch gut so, solange sie weiterhin nach Schokolade und Sahne und nicht nach Bayer Leverkusen schmecken; unser Jens hatte mal eine Negerpuppe (ja, er spielte nicht nur mit Autos und Lego, sondern politisch völlig korrekt auch mit Puppen), und als ich ihn einmal fragte, was an dieser Puppe anders sei als an den anderen, da sagte er: „Der Keka hat einen größeren Mund!“ Da waren wir alle ganz stolz auf unser vorurteilsfreies Kind, dem die Hautfarbe so völlig egal zu sein schien – aber deshalb heißt das Lied trotzdem „Zehn kleine Negerlein“ und man ist kein Rassist, wenn man das singt. (Etwas anderes ist es mit dem Lied „Negeraufstand ist in Cuba, /Schüsse gellen durch die Nacht, /auf den Straßen von Havanna /halten Negerweiber Wacht!“ – das ist problematisch, vor allem wegen der „Weiber“, und das Ganze ist schon ziemlich rassistisch, aber halt auch so schön makaber: Wer darf denn heute noch solche Strophen dichten wie diese: „Eine Frau sucht ihren Mann/ in einem endlos langen Gang/ und sie fand ein Häuflein Knochen/ die nach ihrem Manne rochen…“? oder diese: „In den Straßen fließt der Eiter/ der Verkehr geht nicht mehr weiter/ an den Ecken stehen Knaben/ die sich an dem Eiter laben…“– Das ist einfach infernalisch gut und nur wenig beeinträchtigt durch den unreinen Reim Gang – Mann…)
 
     Und was wird aus den anderen politisch unkorrekten Liedern und Gedichten?  „Ich bin kein Eskimo“, sang weiland Marika Kilius, die erste Hälfte des legendären Paarlauf-Duos Kilius-Bäumler, die auf blankem Eis den ewigen Kampf gegen die Protopopows aus der fernen feindlichen Sowjetunion bestehen mussten, sozusagen als Revanche für 1945. Kilius/Bäumler – allein fast nichts, zusammen Giganten: Zweimal Weltmeister, sechs Mal Europameister, nur Olympia haben sie nie gewonnen: Da standen ihnen diese Russen im Wege, diese Kommunisten Ludmilla Belousowa und Oleg Protopopow, die damals einen ganz neuen Stil in den Eiskunstlauf brachten, die den Wortteil „Kunst“ ernst nahmen und zu allem Überfluss und -druss später auch noch heirateten und nur noch als die Protopopows durch die Eisarenen der Welt glitten, während die deutsche Nation vergeblich darauf wartete, dass Marika und Hans-Jürgen ein Gleiches tun würden. Diese Nation saß 1960 bei den Olympischen Winterspielen von Innsbruck geschlossen  vor dem Schwarz-Weiß-Fernseher, denn Paarlauf-Entscheidungen bei Europa- oder Weltmeisterschaften waren zwischen 1958 und 1964 Straßenfeger, so wie die Krimis von Francis Durbridge. Ja, und so waren die Straßen also nun leer gefegt, aber fassungslos und Zähne knirschend mussten wir alle mit ansehen, wie  dem deutschen Paar, unserem Traumpaar, in dem sich die Sehnsüchte und Ideale des ganzen Volks widerspiegelten, Gold weggeschnappt wurde und sie mit Silber vorlieb nehmen mussten.
     
     Als den Deutschen vier Wochen später bei der Weltmeisterschaft in Dortmund aber die Revanche glückte, als sie Weltmeister wurden, als die Weltordnung wiederhergestellt und die Rache für die Niederlage im Weltkrieg gelungen war, da war die Nation wieder mit sich selber versöhnt und Bundeskanzler Erhard kam zur Siegerehrung und überreichte Blumen.

     Wie das damals so üblich war, begannen die beiden nach dem Triumph unverzüglich zu singen – so wie z.B. der Martin Lauer, der in Rom Gold gewonnen hatte, mit der 4 x 100-Meter-Staffel (aber doch eigentlich nur, weil die Amerikaner disqualifiziert worden waren) und dessen „letzte Rose der Prärie“ sich bis auf Platz 5 hinaufduftete; wie Charly Kaufmann, der 400-Meter-Silberläufer, der wenig erfolgreich „Eine Nacht in Taormina“ heraufbeschwören wollte; wie Peter Müller, der kölsche „Aap“ – unvergesslich geworden durch seinen eindrucksvollen k.o.-Sieg gegen den Ringrichter Pippow und den anschließenden Amoklauf gegen vier Sekundanten, seinen Manager und Schwiegervater sowie 12 Polizisten, was ihm eine eigentlich lebenslange, aber sehr bald auf zehn Monate reduzierte Sperre und die Gelegenheit verschaffte, „Ring frei zur nächsten Runde“ zu grunzen.  Franz Beckenbauer warb später für „Knorr in die Suppe und Kraft auf den Tisch“ (oder umgekehrt) und erzielte außerdem singend (oder was er halt dafür hielt) das „1:0 für die Liebe“;  „bestes Torwart von Welt“  Petar „Radi“ Radenkovic verkündete nach einem seiner gefürchteten Ausflüge zur Mittellinie: „Bin i Radi, bin i König, alles andre stört mich  wenig“, was 400.00 mal verkauft wurde; Skikönig Toni Sailer schilderte hart neben dem Ton seine Gefühle „Immer wenn es schneit“, Hammerwerfer und eindrucksvoll unbegabter Siegfried-Darsteller Uwe Beyer versprach singend: „Ich nagle meine Schuhe an“, wobei er viel besser daran getan hätte, das Mikrophon irgendwo anzunageln,  Hans-Jürgen Bäumler schließlich bedauerte „Sorry little baby“, wobei man nicht genau weiß, ob er damit  einen Patzer bei der Olympia-Kür entschuldigen wollte. Das war alles ganz unverdächtig und politisch rundum kompatibel -  aber da war eben noch Marika Kilius, die, weil sie gelegentlich als recht unterkühlt dargestellt wurde, richtig stellte: „Ich bin kein Eskimo, nein, nein, ich tu nur so, ich hab’ so viel Gefühl, ich bin nicht kühl…“    
 
     Eskimo – damals durfte man das ja noch sagen, weil man noch nicht wusste, dass diese Bezeichnung offenbar ein Schimpfwort ist. (Iglu hoffentlich nicht, weil Käpt’n Iglu sich sonst nämlich auch verabschieden müsste). Aber wie hätte die Marika das Lied denn auch politisch korrekt singen sollen? Ich bin kein Inuit, ich mache alles mit? Albern. Wenn die Diskriminierungsphobie damals schon so ausgeprägt gewesen wäre wie heute, hätten wir wohl auf diesen Meilenstein deutscher Schlagerkunst  verzichten müssen. Was für ein Kulturverlust! Mit dem Eskimo hatte Marika nämlich viel Erfolg, im Duett mit Hans-Jürgen sogar noch mehr, und die beiden Lieder „Wenn die Cowboys träumen“ und „Honeymoon in St. Tropez“  mussten das gleiche Schicksal erfahren wie ihre Sänger: Haarscharf an Platz 1 vorbei.