Die
Mutter Bauer leidet zur Zeit sehr an Ischias und heute Abend aß
sie im Bett. Sofort
war Waltraut wieder das besorgte Mütterchen, sie hatte es sehr
wichtig, der Oma
das Essen zu bringen und suchte ihr selber den schönen
Suppenlöffel aus der
Schublade, mit dem sonst nur sie selber essen darf.
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Kinder
haben ja mitunter sehr seltsame Anwandlungen und eine oft ganz und gar
unerklärliche,
aber um so heißere Liebe zu bestimmten, vorzugsweise defekten
Gegenständen, die
danach schreien, von ordnungs- und vernunftbegabten Erwachsenen der
endgültigen
Entsorgung zugeführt zu werden. Waltraut hatte also ihren
Suppenlöffel – der
mag wohl ein Prachtexemplar gewesen sein, aber nicht zu vergleichen mit
der
stillen Schönheit, dem inneren Glanz, dem mystischen Charisma des
„gebrannten
Tellers“, der unsere kargen Tage beim Bauern in Mils verschönte
und um dessen Benutzung
es unter uns Kindern ein gnadenloses Hauen und Stechen gab. Es handelte
sich um
einen – ich muss es im Interesse der historischen Wahrheit so hart
sagen –
vollständig wertlosen, absolut hässlichen Teller aus
Steingut, der am Rand eine
große Macke hatte, aus der einem die grau-bräunliche Farbe
des von der Glasur
unbedeckten Ur-Stoffes entgegenlachte. Gewöhnlich
war dieser Teller mit Polenta gefüllt, dem italienischen
Maisgrieß, den uns die
Tante Inge – wahrscheinlich wider besseres Wissen – als besondere
Köstlichkeit
rühmte, in der Hoffnung, wir würden uns von ihr täuschen
lassen und das Zeug
schmackhaft finden. Tatsächlich aber war der (oder die?) mit einem
Nüsschen
Margarine, einem Liter Wasser und einem Teelöffel Salz in einem
hohen breiten
Topf zubereitete Polenta allenfalls durch eine gehörige Portion
Milch essbar, insofern
nämlich, als er (oder sie?) dann zumindest nicht mehr am Gaumen
kleben blieb wie
damals die Omeletten, von denen meine Mutter vier Stück mit einem
einzigen Ei
und sehr viel Roggenmehl hergestellt hatte.
Wenn
dieser gelbe Maisgrieß-Brei, unser
beinahe tägliches Brot,
aber mehr sein sollte als ein Mittel, das nackte Überleben zu
sichern und uns vor
dem Hungertod zu bewahren, wenn er den Anspruch erheben wollte, so
etwas
wie eine Mahlzeit zu sein, dann war das nur auf dem besagten
„gebrannten“ Teller
möglich. Da konnte man den Haufen kegelförmig modellieren, so
dass er die
Form eines Vulkans annahm, dann mit dem Löffel einen
Krater ausheben und anschließend eine Bergstraße spuren,
die sich schlangengleich um den Vulkan bis unter den Gipfel wand.
Schließlich ließ man das Ganze in einen
tief-weißen Bergsee sinken, indem man nämlich einen
Viertelliter Milch in den Teller schüttete und zusah, wie die
sanften Wellen des Milchsees
leise gegen den gelben Grießvulkan plätscherten. Dann galt
es noch
diverse Tunnel in den Vulkan zu bohren, ohne dass der ganze Berg
einstürzte, und die
Milchströme hindurchzuleiten – und in so konstruktives Spiel
vertieft, konnte man
den Polentaberg sogar essen – sofern man, wie gesagt, den gebrannten
Teller
hatte.
Andernfalls musste man halt sehen, wie man das
Zeug durch die
Geschmackskontrolle des Gaumens in den Schlund bekam –
schließlich mussten wir uns ja
irgendwie ernähren...
Vielleicht
war es ja ganz gut, dass wir
damals, drei Jahre nach dem Krieg, nicht
wussten, was man alles mit Polenta machen kann:
überbackene Polenta, Polenta-Hackpastete,
Polenta-Käseschnitten, Polenta nera,
Kräuterpolenta mit getrockneten Tomaten, süße
Polentaschnitten, Polenta-Auflauf
mit Azukibohnen (wofür man neben diesen Bohnen auch noch vier
Knoblauchzehen, eine große Zwiebel, drei Esslöffel Öl,
500 Gramm Tomaten,
100 Gramm geriebenen Pecorino, einen
Teelöffel
Butter, Lorbeerblätter, zwei Teelöffel getrocknete
Salbeiblätter, zwei
Teelöffel getrockneten Thymian und zwei
Teelöffel getrockneten Majoran sowie Lorbeerblätter
braucht),
- denn
hätten wir’s gewusst, wir hätten unter der kärglichen
Wasser-Salz-Zubereitung
wohl noch mehr gelitten – da hätte selbst der „gebrannte“ Teller
nichts mehr
retten können.
Wir
Nachkriegskinder ahnten nicht, welche Genüsse uns vorenthalten
wurden – nicht
einmal eine leise Ahnung beschlich uns, dass es fatamorganahafte
Köstlichkeiten
wie Polenta gratinata alle funghi gab,
wofür man Milch mit Gemüsebrühe und Salz aufkochen, die
Polenta rührend
einrieseln und offen bei schwacher Hitze zu einem Brei köcheln
lässt – so liest
man es heute im Kochbuch, das zudem eindringlich darauf hinweist, dass
die
ganze Zeit fleißig gerührt werden muss. (Das unterscheidet
Polenta
selbstverständlich von James Bonds Martini, der bekanntlich
ausschließlich
geschüttelt und nicht gerührt wird.) Nach
25 Minuten etwa beginnt der breite,
tiefe Topf allmählich zu kreißen und gebiert
schließlich einen Brei, der, falls
er noch zu weich ist, noch weiter eingegrießt und
durchgerührt wird. Dann wird
der breiigen Masse ein Ei zusammen mit einem Esslöffel Butter
untergejubelt und
das Resultat mit Muskat, Pfeffer und etwas Salz wunderbar abgeschmeckt.
Auf
einem eingeölten Backblech trägt man die Polenta
sodann gleichmäßig dick auf (das
ist einer der seltenen Momente, in denen es durchaus angemessen ist,
dick
aufzutragen). Nach einer Stunde sollte alles abgekühlt und fest
sein.
Die
Wartezeit verstreicht indes nicht ungenutzt: Da werden Tomaten
gewaschen, entstielt
und in Scheiben geschnitten, und dem bereit stehenden guten
Büffelkäse
Mozzarella ebenso wie einem halben Pfund Pilzköpfen
widerfährt das gleiche
Schicksal (freilich, auf das Entstielen kann man beim Mozzarella
verzichten,
weil Käse nur selten am Stiel verkauft wird), ehe er liebevoll von
gewaschenen
und fein gehackten Basilikumblättern bedeckt wird.
Schließlich landet die fest gewordene Polenta, in gleich
große
Quadrate von etwa 6 Zentimetern Seitenlänge geschnitten und
anschließend durch
einen Diagonalschnitt in zwei gleichschenklig-rechtwinklige Dreiecke (a2+a2
= c2) verwandelt, in einer
eingefetteten Backform.
Freilich,
um höheren mathematisch-ästhetischen Ansprüchen zu
genügen, sollte der anspruchsvolle
Koch (und das gilt - um der politischen Korrektheit willen
- selbstverständlich auch für die Köchin) keine
Quadrate, sondern unbedingt
Rechtecke mit den Seitenlängen 3 Zentimeter und 4 Zentimeter
schneiden, weil
diese nämlich durch den kühnen Diagonalschnitt in zwei
wunderbare
pythagoräische Tripel verwandelt würden. Das verbessert den
Geschmack der
Polenta zwar nicht wesentlich, ist dafür aber eine
ästhetisch-intellektuelle
Freude – wie alles, was mit der Vollkommenheit von Zahlen zu tun hat.
Ein
Tripel zu finden, also zwei Quadratzahlen, deren Summe das Quadrat
einer
dritten Zahl ergibt, ohne überstehende Knochen oder Ausbuchtungen
von
Dezimalstellen, ist den Gewinn einer Fußballweltmeisterschaft
wert, und gegen
die Freude, eine vollkommene Zahl gefunden zu haben, also eine, bei der
die
Summe ihrer Teiler so groß ist wie sie selbst (6 ist so ein
Wunder: die Teiler
sind 1,2 und 3, und die ergeben zusammengezählt – sechs!), wiegt
jeden durchschnittlichen
Orgasmus auf.
Für
größere Familien – um nun wieder zur Polenta
zurückzukehren, denn um die geht
es hier schließlich - wären eventuell noch die
Seitenlängen 5 und 12 zu
erwägen, welche eine ansehnliche Diagonale von 13 ergäben,
doch wird
hier die Freude über das Tripel eventuell an dem
Fassungsvermögen des Backofens
scheitern. Nicht zu empfehlen ist dagegen das Tripel a=99, b= 4900 und
c=4901,
weil es a) zu einer allzu länglichen und ästhetisch
unbefriedigenden Form führt
und b) eine Polentaschnitte mit einer
Kantenlänge von 49 Metern Raumprobleme
aufwirft.
Fächerartig
werden nun nach den mathematischen Operationen die Polentadreiecke, die
Mozzarellascheiben, die Tomaten und die Pilze in die Auflaufform
geschichtet,
mit Parmesan bestreut und mit Butterflöckchen belegt. Nach 15
Minuten im
Backofen ist die Polenta schließlich
goldgelb, wird vor dem Servieren noch mit Basilikum bestreut und
der Familie zum
lustvollen Verzehr überlassen.
Welche
Vorstellung! Butter, Mozzarella, Pilze, Basilikum, Parmesan – das waren Gaumenfreuden, Gottesgaben, die
wir – mit Ausnahme der Butter - gar nicht, Mutter und Großeltern
allenfalls als
erinnerte Bruchstücke aus ferneren, glücklicheren
Vorkriegstagen kannten. Aber
wir brauchten dies
alles ja gar nicht, denn wir hatten unseren „gebrannten“ Teller…
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