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Ich über mich | Olympia 1972 |
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Texte |
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Zum Tode von
Hanns-Dieter Hüsch am 6.12.2005 |
Kennst Du diese plötzlichen Sekunden wenn Dir einfällt, dass Du sterben musst Siegessicher gehst Du durch die Stunden doch auf einmal wird es Dir bewusst Und Du fragst Dich, wie das wohl gehen wird welches Wort als letztes Wort Du sagst Wer zuletzt an Deiner Seite stehen wird ob Du tapfer, oder ob Du klagst Dann bald ist Obduktion im Café Größenwahn schnell die nächste Leiche auf den Tisch dann wird aufgemacht und dann wird nachgedacht dann wieder zugemacht und sich kaputtgelacht Denn in jeder Leiche ist ein Kind versteckt das nach Zukunft fragt und nach Frühling schmeckt und sich dann erschreckt Und dann kommen all' die flotten Leute rufen "hören Sie doch damit auf" so ein Quatsch, denn heut' ist schließlich heute kommt! Wir machen schnell noch einen drauf Und dann findet man noch einen Frühstücksrest vom Oktoberfest, der sich sehen lässt Herr, war das ein Fest! Und dann kommen auch die großen Tröster mit den neuesten Plänen in der Hand dann wird diskutiert und dann wird reflektiert und danach konstatiert, dass man Dich angeschmiert Und dann findet man noch einen Augenblick eine Spur vom Glück und ein Silberstück doch das liegt weit zurück Und dann findet man noch einen Trennungsgrund zwischen Herz und Mund ziemlich schmal und rund doch sonst war er gesund (Hanns Dieter Hüsch) |
Nee, nee, an den Niederrhein, da musse schon viel Gemüt mitbringen. Wie sach ich immer: Internationales Gemüt, denn speziell der Niederrheiner stammt ja von allen Menschen ab. Dat hab ich schon mal in Kleve vor Jahren in einem Vortrag gesacht. Also gut: Die Schönheit des Niederrheins, mein ich immer, dat is nich sone Angelegenheit, so wie man sacht, Gott is die Frau schön. Das geht tiefer. Dat krisse fast gar nich raus, warum dat so is. Auf den ersten Blick schon gar nicht. Muss ja auch nicht sein, sach ich immer, dat wär ja ne langweilige Schönheit. Nein, der Niederrhein will angeguckt werden. Und dann beginnt die große Liebe. Dat is dat Geheimnis des Niederrheins. Un wer einmal am Niederrhein war, der kommt wieder. Da jagen sich die Rätsel: Warum is hier nix los un doch alles los. Un wo anders is alles los, un gar nix los. Der Niederrhein, denk ich immer, macht einem nix vor. Da gibbet keine kalkulierte Romantik, sondern eine Musik aus Vergessen und Erinnern, un da draus entsteht das Gefühl am Ende der Welt, am Ende aller Tage zu sein. Und aus dem Altrhein bei Xanten tauchen prustend alle Vorfahren auf, als hätten sie sich verschwommen. Wer Phantasie studieren möchte, der sollte ein paar Semester an den Niederrhein kommen und dann als Lohengrin wieder in die große Welt fahren. Burgen gibt´s. Schlösser gibt´s und Wasserschlösser, Windmühlen und Wassermühlen, Kirchturmspitzen, Fähren und Inseln, Kunst im Schloss Moyland, Karneval in Keppeln, und komm mir nun keiner, und sach, er sei nicht genannt worden. Der Niederrheiner ist überhaupt zu allem unfähig. Er weiß nix, kann aber alles erklären. Umgekehrt: Wenn man ihm etwas erklärt, versteht er nichts, sagt aber dauernd: Is doch logisch. Und wenn er keinen Ausweg mehr weiß, steigert er sich in eine ungeheure Assoziationskette hinein. Er kann zum Beispiel in wenigen Sätzen von Stefan Askenase, dem berüchtigten Chopinspieler, auf die Narkoseschwester Gertrud kommen. In Homberg am Niederrhein, da sagt man nämlich nicht: "Nimm Platz", sondern da sagt man: "Geh sitzen". Dat is zwar krummes Deutsch, geh ma auf de Bank sitzen, aber sowat von gemütstief, kriegen se später nie wieder, nie. Wenn ich mir heute ein Jugendbildnis von Joseph Beuys anseh, das mit dem weißen Hemd und dem offenen Kragen, wo er so vor sich hinblickt, das ist das niederrheinische Auge, das bis in die letzten Winkel der Welt sieht. Die meisten Niederrheiner sind ja auch durch de Bank schwermütig. Also nicht durch de Bank, obwohl manche sind auch durch de Bank schwermütig. Wir sind unsere eigenen Philosophen. Und wenn der Rheinländer auf die Frage "Wie isset?" "Gut" sagt, dann sagt der Niederrheiner: "Wie sollet sein?" Ja, aus uns krisse so schnell nix raus. Das ist ja der Choral des Niederrheiners: Wat willze machen. An sonem Tag biss einfach aufgeschmissen, und dann ist der Niederrheiner auch noch aggressiv gehemmt. Wenn der Niederrheiner mal ausnahmsweise etwas weiß, dann weiß er dat aber auch ganz fest bis an sein Lebensende, bis in alle Ewigkeit. Auch wenn et gar nich stimmt. Un meistens stimmt et nich. Die einen haben et und die anderen müssen et erfinden. Ich sag, Herr Pastor, wat am Niederrhein nich alles schon erfunden worden is in der Hinsicht, nur um sich über Wasser zu halten, da müssten Sie drei mal am Tag predigen, um dat alles unterzubringen. Da gibbet am Niederrhein Hunderte von. Alles Verrückte, die keiner Fliege was zuleide tun. Höchstens sich selbst. Sagte ich später zu meiner Frau: Warum ich da in aller Ruhe sitzen wollte und immer "ja natürlich" gesagt habe und die Welt über mich ergehen ließ. Scheusal, sagte meine Frau. Ja natürlich, sagte ich. Der Niederrheiner ist eben der Mongole unter den Rheinländern. Der Niederrheiner braucht ja eigentlich nur sich, mehr muss dat gar nicht sein, weil de so viel mit sich selbst zu tun hat, von morgens bis abends. Da kommt der auf dem flachen Land gar nicht zu Ruhe, weil de ewig am bosseln un am prakesieren un am rennen is, aus de Küch innet Krankenhaus, dann auf en Kirchhof und dann wieder zurück inne Küch. Ein Schluri, weil ich hab de Kopp zu voll. So sagt man auf Niederrömisch. So haben die alten Römer früher am Niederrhein gesprochen. Er möchte unauffindbar sein, sagt er immer, damit er seine völlig Ruhe hätte. Davon hätte er schon als Kind geträumt, am unteren Niederrhein möchte er unauffindbar sein. Hat er an der Theke von Hein Lindemann allen verkündet: unauffindbar. Da hamwer alle ganz bedöppelt ausgesehn. Also dann Gruß zu Haus un Tach zusammen Hanns Dieter Hüsch, Zitat-Auswahl von Karen Kliem aus: "Zugabe" (Köln 2003), "Mein Traum vom Niederrhein" (Duisburg 1996), "Und sie bewegt mich doch" (Mainz 1985). |
Eine Altstadt muss man lange wiegen
Lang verwahren wie ein Kind Weil in ihr verborgen liegen Dinge die gewesen sind Rätsel die nach Lösung suchen Kälte die nach Wärme schrie Menschen die den Krieg verfluchten Liebe Krankheit Poesie Häuser die sich leicht verneigen Häuser die von Zwietracht sprechen Häuser die uns Freundschaft zeigen Häuser die zusammenbrechen Trinker die nach Gleichheit suchten Dichter die nach Freiheit riefen Menschen die den Krieg verfluchten Oft auch um ihr Leben liefen Häuser die vom Tod erzählen Häuser die die Zeit besiegen Häuser die sich fast vermählen Und sich in den Armen liegen Menschen die ums Leben kamen Menschen die die Welt verlachten Menschen die in Gottes Namen Neuen Mut und Hoffnung machten Eine Altstadt muss man lang verwahren Lange wiegen wie ein Kind Da auch wir in wenigen Jahren Alte Menschen sind. |