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Trauerfeier Hanns Dieter Hüsch – Stadtkirche Moers, 12.12.2005
Rede von Holk Freytag, z. Zt. Intendant des Staatstheaters Dresden

 
Liebe Chris,
liebe Anna,
meine Damen und Herren,
 
Hanns Dieter Hüsch hat den Niederrhein einmal eine verschleppte Erkältung genannt. Ich habe deshalb aus Dresden eine dem Anlass angemessene niederrheinische Erkältung mitgebracht, bitte haben Sie deshalb Nachsicht mit meiner Stimme.
 
Chris, wenn du mir die Ehre erweist, heute an diesem Ort über einen Menschen sprechen zu dürfen, der einen festen Platz in der Biographie all derer eingenommen hat, die sich heute hier versammelt haben, so wirst du mir es nachsehen, dass meine Worte sehr persönlich geraten.
 
Wir haben uns lange auf diesen Tag vorbereiten können, Hanns Dieter Hüsch hat sich viel Zeit für den Abschied von dieser Welt genommen, so als wolle er seine Botschaft sehr behutsam in die Hände derer legen, die sie nun verwalten müssen – und das sind wir alle.
 
Es war ein wunderbares Gefühl, in einer Welt zu leben, in der es ihn gab – und deshalb siegt die Dankbarkeit für 80 Jahre Zeitgenossenschaft über die Trauer des Abschieds. Sprache, sagt Hölderlin, ist ein großer Überfluss, ein Überfluss zudem, aus dem wir täglich schöpfen, allerdings ohne uns immer darüber im Klaren zu sein, was alles der Gebrauch von Sprache über die verrät, die sie sprechen. In den tausend, sicherlich einsamen Stunden seiner Kindheit, in denen seine Füße so zurecht wuchsen, dass sie ihn dereinst auf dem Marsch der Minderheit würden tragen können – in diesen Stunden muss er die Sprache seiner Umgebung in sich aufgesogen haben, muss er darüber nachgedacht haben, was wohl diese endlosen Füllwörter, die für sich genommen völlig sinnfrei sind, für die bedeuteten, die sich damit über so manche Sprachverlegenheit retteten. Und er muss sie gespeichert haben die Klänge, die unsere Landschaft ausmachen. Er horchte in sie hinein und entdeckte Unerhörtes.

                        „Wirf mir einen Namen zu“, schrieb er 1984,
                        „Und ich mach Dir eine Geschichte daraus.“

So schuf er sich – und uns – eine Sprache, die Metaphysik in der Trivialität entdeckte. Diese Sprache, die unsere Sprache war, hielt er uns dann, als er älter wurde, vor.
Das musste zunächst einmal schief gehen, und er wurde ein schwarzes Schaf, denn mit der Sprache lieferte er uns auch die Erklärung dafür, warum wir sie so und nicht anders benutzten. Erst als sich anderenorts – besonders in der fernen Schweiz bei den hohen Bergen – die Menschen ansprechen ließen und bestaunten, welche philosophischen Dimensionen im Alltäglichen verborgen sind, da dämmerte es uns hier auch allmählich, mit welchem Meister der Sprache wir es hier zu tun hatten. Natürlich, die in der Schweiz hatten gut reden – die hießen schließlich nicht Kleinheisterkamp oder Ditz Atrops. Unsere Nerven lagen doch bei jedem öffentlich vorgetragenen „N’amend’ zusammen“ bloß. Dass es die in Bern und Umgebung ebenso betraf, wenn er die Geburt der Sprache aus der Trivialität des Alltags beschwor, das musste er uns selbst erst sagen. Den „Allgemeingültigkeitsanspruch des Niederrheins“ nannte er es – und er hatte Recht, wie die Tatsache beweist, dass sich sein Publikum bis zu seinem Abschied von der Weltbühne des Kabaretts ständig verjüngt hat.
 
Wer aus Moers in andere Regionen kam, hatte im Zeitalter vor Hüsch eigentlich nicht wirklich eine Heimat – schöpferische Pause der Natur zwischen Rheintal und Nordsee gehörte noch zu den phantasievolleren Umschreibungen, und Kleist spricht in dem einzigen Stück Weltdramatik, das in unserer Region spielt, im „Zerbrochnen Krug“, lediglich vom „platten Land“. Und doch sind die Menschen von Trauerweiden und Nieselregen genauso geprägt, wie die Brandenburger von Kiefernwäldern, Oderbruch und endlosem Sandboden. Ich habe das immer wieder erfahren, und als ich in Wuppertal den „Faust“ inszenierte, mussten es niederrheinische Glocken sein, die Faust am Ende der ersten Studierzimmerszene ins Leben zurückholten. Später las ich bei Hüsch, warum:

                        „Samstags die Glocken
                        Wohl auch woanders
                        Aber am Niederrhein
                        Klingen sie
                        Metaphysisch.“

Sein Verhältnis zu seiner Vaterstadt, besser: das Verhältnis seiner Vaterstadt zu ihm, war nicht immer so voller Harmonie wie heute. Und dies lag, so denke ich, an fehlendem Selbstbewusstsein seiner Vaterstadt. Ein Text aus dem Jahre 1984 konnte da echte Lebenshilfe bieten:

                        „Krefeld und Düsseldorf
                        waren für mich Weltstädte.
                        In Krefeld und Düsseldorf
                        hab ich als Kind gedacht
                        müssen die Menschen
                        viel größer und schöner und feiner sein.
                        Alles Kappes.
                        In Krefeld und Düsseldorf
                        wird auch nur mit Wasser gekocht
                        wie in Berlin, Hamburg und München.
                        Alles Kappes.
                        Aber als niederrheinisches Kind mit
                        dem flachen Land im Genick
                        der schwarzweißen Kuh im Kopf
                        meint man
                        da gehört man nicht hin.
                        Alles Kappes.
                        Umgekehrt ist es.
                        Die große Welt gehört
                        Nicht an den Niederrhein.“
 
Eine Hand voll Menschen haben Ende der 60er-Jahre die Sache in die Hand genommen und Hüsch über viele Jahre mit seiner Vaterstadt und seine Vaterstadt mit ihm versöhnt, so dass heute die stolze Stadtbibliothek seinen Namen tragen kann. Am Beginn dieser schwer erarbeiteten Liebesbeziehung stand der legendäre Moerser WAZ-Chef Schorsch Häckel – und als Bürgermeister hat Willy Brunswick Hüsch zur Chefsache gemacht und sich bleibende Verdienste erworben. Heute dürfen wir alle Hanns Dieter Hüsch feiern als den Menschen, der einem Durchreiseland das Etikett der Region verliehen hat, die sich von nun an selbstbewusst neben Oberbayern und Lausitz, neben Mecklenburg und die Pfalz stellen darf – und er hat uns die eigene Sprache zurückgegeben. Damit ist er in bester Gesellschaft – hat nicht Luther seine Sprache, die mehr als jede politische Entwicklung Grundlage eines vereinten Deutschlands war und ist, nicht auch ‚abgehört’? Und zwar aus den thüringischen Kanzleien und Ämtern.
 
Bei der Benennung der Bibliothek übrigens sollte es nicht bleiben – sein Tun für uns verdient die Benennung eines großen öffentlichen Versammlungsplatzes – ich schlage den Kastellplatz vor -, eines Ortes, an dem sich seine Figuren wie auf einer Bühne versammeln können und den Gesang vom großen, kleinen Mann anstimmen – ganz so, wie er es jahrzehntelang hinter der Barrikade seiner Orgel vorgemacht hat.
 
Denn politisch war er immer – viel nachhaltiger, unbestechlicher als seine zeitweiligen Kritiker und ganz linken Kumpane dies heute wahrhaben könnten. Nur war das Utopia, dass ihm vorschwebte nicht das Land jenseits blutiger Kämpfe – es war der Mensch selber – und weil er so bedingungslos an ihn glaubte, wurde sein Schöpfer schließlich weich, schwang sich aufs Fahrrad und fuhr nach Dinslaken – wo sonst könnte man Gott auch treffen, wenn nicht da, wo er am meisten gebraucht wird? Da, wo keine Architektur, keine Landschaft, kein mildes Klima den Menschen den Alltag versüßt. Hüsch hat seine Schauplätze immer sorgfältig gewählt. Wieder also ist die Trivialität der Ausgangspunkt des Erhabenen – denn dort beginnt Hüsch seine ungeheure Reise – und diesmal ist Kafka sein Pate und Dante sein Mentor. So wie Virgil den Dante, so führt Petrus de Vinea Hüsch ins Paradiso. Der Personalausweis bleibt ebenso zu Hause wie das zweite Paar Schuhe – wie bei Kafka bedarf eine ungeheure Reise nicht des Gepäcks. „Wir sehen uns wieder“, ruft er seiner Frau noch zu, bevor er sich auf die Reise begibt, die er jetzt tatsächlich angetreten hat. Dass sie ihn in den Himmel führt, kann keine Frage sein, dass der liebe Gott sich ihm widmet, aufmerksam seinen Geschichten lauscht, um sich von der Geschichte abzulenken, das alles durften wir in seinem erstaunlichsten Buch aus dem Jahre 1995 nachlesen, nein „vor-lesen“. Und wie sieht’s da aus, wohin er jetzt gewiss unterwegs ist? Petrus de Vinea hat’s uns verraten: „Der Himmel ist die Sprache – wie auch nicht, höre ich uns sagen, doch Petrus fährt fort – und die Phantasie. Es kann nichts passieren. Denken ist endlich ein Genuss und keine Anstrengung. Hier können wir unseren Gedanken wirklich nachgehen. Und keiner wirft uns das vor oder rümpft die Nase.“
 
Hüsch, der beseelte Christ, hat von seinem Gott ein Übermaß dessen erhalten, was Goethe seinen Teufel „den Schein des Himmelslicht“ nennen ließ, eben das, was wir uns Vernunft zu nennen angewöhnt haben – und doch so selten befolgen. Für Hüsch, der den Faschismus noch miterleben musste, ist sie der einzige Garant fürs Überleben – und so beschließt er seinen Besuch im Himmel in seinem Buch „Wir sehen uns wieder“ mit den folgenden 16 Zeilen, die schon 1995 wie ein Vermächtnis klangen:

                        „Lasst keinen kommen der da sagt
                        Dass ihm dein Spielfreund nicht behagt
                        Dann stellt euch vor das Türkenkind
                        Dass ihm kein Leids und Tränen sind.
 
                        Dann nehmt euch alle an die Hand
                        Und nehmt euch den der nicht erkannt
                        Dass früh schon in uns allen brennt
                        Das was man den Faschismus nennt.
 
                        Nur wenn wir eins sind überall
                        Dann gibt es keinen neuen Fall
                        Von Auschwitz bis nach Buchenwald
                        Und wer’s nicht spürt der merkt es bald.
 
                        Nur wenn wir alle in uns sehn
                        Besiegen wir das Phänomen
                        Nur wenn wir alle in uns sind
                        Fliegt keine Asche mehr im Wind.“
 
Indem er dies aufschreibt – zudem an so prominenter Stelle – glaubt er an die positive Wendung. Indem er sich auf die Vergangenheit beruft, um die Zukunft zu gestalten, stellt er die Zeitachse von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wieder her, die unsere Zeit so gerne verleugnet. Indem er Geschichte bewertet, reiht er sich ein in die Zahl der großen Aufklärer – mit Lessing als Ahnherrn. Besonders modisch ist das nicht, und an Hüsch denkend, fällt mir immer ein Satz von Egon Bahr ein, der auf die Frage, was ihn ausmache, einmal geantwortet hat: „Ich bin altmodisch und deshalb wahrscheinlich auf der Höhe der Zeit.“
 
Hüsch war immer altmodisch und immer auf der Höhe der Zeit. Als mich am vergangenen Dienstag Willy Brunswick anrief und mir sagte, dass Hanns Dieter von uns gegangen ist, da fiel mir ein Text ein, der mich seit fast vierzig Jahren begleitet und der mit den Worten endet „ ... es gibt ein paar Menschen, die uns beim Wort genommen, Freunde, wir haben Arbeit bekommen.“ Nun hat er selbst uns beim Wort genommen und mit ihm im Gepräck dürfte uns die Arbeit nicht schwer fallen. Die Arbeit an einer humaneren Welt, in der Moral kein Fremdwort ist, in der jeder weiß, dass die Wurzel der Intoleranz am Kaffeetisch gelegt wird und in der klar ist, dass, wer auf Menschen schießt, in Wahrheit auf sich selber schießt.
Es ist wahr, das deutsche Kabarett trauert um seinen Mentor, aber Hüsch war mehr als ein Kabarettist, er war ein Dichter und Schauspieler – seine Bühne war seine Orgel und seine Protagonisten hießen Ditz Atrops und Hagenbuch. Unter ihnen wurde die Welt verhandelt, auch wenn seine Geschichten am Königlichen Hof oder in Rheinberg ihren Anfang nahmen. Jahrzehntelang habe ich ihn meinen Schauspielerinnen und Schauspielern vorgehalten – denn er war, ohne dass er es wusste, ein großer Lehrer. Wie man mit einer Pause die Spannung ins Unendliche steigern kann, wie man einen Lacher provoziert, ohne dass dieser im Text angelegt wäre, wie man schließlich nur durch eine Veränderung des Tempos ein Publikum vom befreienden Lachen in tiefe Nachdenklichkeit führen kann, das alles konnte man von ihm lernen. Natürlich hat Hamlet recht, wenn er sagt „Schauspieler können nichts für sich behalten – sie plaudern alles aus.“ Hüsch aber behielt sich vor zu entscheiden, was er wann und wie ausplauderte – darin lag sein Geheimnis – darin liegt auch das Geheimnis großer Schauspielkunst.
 
Es dürfte kaum einen Künstler in unserem Lande geben, von dem seine Kolleginnen und Kollegen mit so ungeteilter Hochachtung sprechen – und dies seit vielen Jahren. Stellvertretend dafür ist eine Szene, die er in seinem Buch „Du kommst auch drin vor“ erwähnt. Die Münchner Lach- und Schießgesellschaft gehörte für ihn – neben dem Kom(m)ödchen zum Mekka des aufstrebenden Kabarettisten. Als er zum ersten Mal hingehen wollte, sah er eine lange Schlange an der Abendkasse. Er hatte sich gerade mit der ihm eigenen Schüchternheit angestellt, als Sammy Drechsel ihn entdeckte und ihn in den Saal brachte. Dort saß er mit klopfendem Herzen, während Sammy Drechsel hinter der Bühne den deutschen Kabarett-Göttern Hildebrand, Herking und Co. einschärfte, seid gut heute Abend, der Hüsch sitzt drin!
 
Einige von uns hier heute Morgen sind ihm auch zu ganz konkretem persönlichen Dank verpflichtet – denn das „kleine Kulturwunder am Niederrhein“ Anfang der 70er-Jahre hatte ihn an seiner Seite. Burkhard Hennens „Röhre“ hat er ebenso gefördert, wie Hannsheiner Merkamps Film-Projekt und unser aller Schlosstheater – mit Gagen, die meist nicht die Kosten der Anreise deckten – und als er mir bei seinem zweiten Gastspiel im Schlosstheater auf der Straße so ganz nebenbei das „Du“ anbot, war das für mich der Ritterschlag – ich gehörte von Stund an dazu. Vielleicht war dies der gemeinsame Motor – auch Hanns Dieter wollte schließlich „dazugehören“, und ich denke, über keine Ehrung hat er sich so gefreut, wie über die Verleihung der Ehrenbürgerwürde seiner Vaterstadt.
Hanns Dieter Hüsch war Vieles – und Vieles ist über ihn in diesen Tagen geschrieben worden – nur eines war er nicht: er war kein Spaßmacher, wie es uns bisweilen suggeriert wird. Zugegeben, seine Niederrhein-Geschichten sind zum Teil brüllend komisch, aber hinter dem Scherz liegt ein tiefes Mitgefühl für die scheinbar bloßgestellten Figuren  und eine demütige Auseinandersetzung mit ihren Schwächen. Voller Dankbarkeit nehmen wir Abschied von einem großen Mitmenschen, einem, der uns gesagt hat, wer wir sind.
 
Darf ich Sie nun bitten, Hanns Dieter Hüsch dafür noch einmal in der Form zu danken, die ihm, dem großen Theatermann gebührt. Schenken wir ihm noch einmal unseren Applaus.
 
 
Holk Freytag