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Ich über mich | Olympia 1972 |
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Wie in den 50er Jahren, als aus dem Nachkriegschaos die bundesdeutsche Wohlstandsgesellschaft entstand und Frau von Pappritz* uns über die Benutzung der Toilettenspülung in Neubauwohnungen belehrte, drängt es auch heute wieder Autoren und Verleger, uns Umgangsformen beizubringen. Angesichts der gesellschaftlichen Veränderungen ist die Notwendigkeit des Unterfangens einsichtig, fragwürdig freilich bleibt sein Nutzen.
Umgangsformen
waren immer nur Codes, deren Beherrschung die Zugehörigkeit zu
einer
Gesellschafts- schicht erkenn- und überprüfbar machte.
Bereits die
Anstandslehren des Mittelalters verzichteten darauf, die Unterlassung
von
Mord, Diebstahl, Vergewaltigung, Betrug im Umgang der Menschen
miteinander
zu fordern, dies galt, so häufig die Gebote auch übertreten
wurden,
als selbstverständlich. Gutes Benehmen war nie eine Frage der
Moral, sondern der Beherrschung von Regeln.
Diese wechselten allerdings so häufig, dass Beneh-
Der
Umgang mit Kir Royal oder Wangenküssen z. B. unterscheidet heute
den
Provinzler aus der Unter- schicht vom Zeitgeistavantgardisten.Die
meisten Regeländerungen entbehren dabei jeder begründbaren
Rechtfertigung, sind rein normativ.
So musste man in Deutschland bis in die Mitte unseres Jahrhunderts die
Suppe
mit der Löffelspitze einnehmen, um zur guten Gesellschaft zu
gehören,
erst seit den 50er Jahren darf
Die Lächerlichkeit mancher Benimmregel darf freilich nicht
die Sicht auf bedeutsamere Entwicklungen versperren. In einer
hierarchisch gegliederten Gesellschaft hatten Codes tatsächlich
eine Unterscheidungs-
Wenn
Sybil Gräfin Schönfeldt, deren Lehren des guten Tons immer
wieder
neu aufgelegt werden, meint, Messer, Gabel und Löffel fände
man
seit Jahrtausenden in allen Kulturen, unterliegt sie einem Irrtum. Ganz
ab- gesehen
davon, dass auch heute noch nur ein Drittel der Menschheit diese
Esswerkzeuge
benutzt (ein Drittel
Auch
unsere vornehmsten Vorfahren griffen damals noch mit ihren Händen
in
die gemeinsame Schüssel, erst im 11. Jahrhundert entstand als
Unterscheidungsmerkmal
vom Pöbel die Sitte, nur mehr die drei linken Finger der rechten
Hand
in eine Schüssel zu tauchen. Die schon den Römern als
Bratenspieß
bekannte Gabel galt als Satanswerkzeug und war während des
gesamten
Mittelalters vom Kirchenbann belegt, Hildegard von Bingen
geißelte
die „Verhöhnung und Verärgerung Gottes durch die Benutzung
des
teuflischen Instrumentes
Montaigne,
einer der gebildetsten Männer des Jahrhunderts, bekannte:
„Manchmal
esse ich so hastig, dass ich mich in den Finger beiße.“ Der
italienische
Komponist Monteverdi ließ hundert Jahre später für jede
Mahlzeit,
bei der er eine Gabel benutzen musste, zur Buße dieser
Tabuverletzung
drei Messen lesen. Im 18. Jahrhundert wurden in den meisten
französischen
Restaurants keine Gabeln gereicht (was Goethe veranlass-
Angesichts solch fundamentaler Besteckfragen scheinen unsere Sorgen um die richtige Platzierung und das richtige Anfassen des Bestecks ein wenig übertrieben. Doch lassen sich am Umgang mit den Esswerk- zeugen drei Regulatoren des guten Benehmens erkennen. Ihre Anordnung auf der Tafel, ihre Zuordnung zu den Speisen (Oliven? Nur mit dem Löffel!) und ihr Gebrauch sind zunächst Ausdruck des gerade gültigen gesell- schaftlichen Codes. Er erlaubt Rückschlüsse auf die Klassenzugehörigkeit des Essers, ist somit ein Erken- nungszeichen. Darüber hinaus ist der Gebrauch solcher Instrumente durchaus vernünftig, weil hygienischer als das Essen mit den Fingern. Schließlich aber ist er auch Ausdruck gesellschaftlicher Veränderungen seit dem Mittelalter, nämlich der von Elias beschriebenen Distanzierung des Menschen von seinem Nachbarn. Erst schlief man nicht mehr nackt in einem Bett, dann aß man nicht mehr aus einer Schüssel, schließlich zog man sich in die Privatheit eigener Zimmer zurück. Diese Distanzierung hatte Folgen für das als richtig angesehene Benehmen. Noch in der Renaissance galt das Anfassen eines weiblichen Busens durch einen Fremden als Huldigung, als Schmeichelei. Doch wie beim Umgang mit Essbestecken entwickelte sich auch in der Sexualität eine größere Distanz zum Körper des anderen, endlich zum eigenen Körper. Ein Ratgeber für junge Mädchen forderte 1884: „Wenn Du ein Bad nimmst, so streue etwas Sägemehl auf das Wasser, damit Dir der peinliche Anblick Deiner Scham erspart bleibe.“ Manchmal mutiert ein Code zur Moral.
Benimmbücher
haben immer etwas Komisches und zugleich Vergebliches an sich. Komisch
wirkt
ihre Ernsthaftigkeit, Bedeutsamkeit, mit der alsbald überholte
Standards
eingefordert werden. Komisch ist z. B. ihr Festhalten an
Kleiderordnungen,
die es natürlich auch heute noch gibt: Wo nicht Frack oder Smoking
die
Gruppenzugehörigkeit bestimmen, sind es zwei oder drei Streifen
auf
den Turnschuhen, dieser oder jener Name auf dem sichtbar getragenen
Etikett,
für Leseschwache tut es auch ein Tiersymbol. Komisch wirken die
längst
durchschauten Unterdrückungsmechanismen der Höflichkeit (was
Frauen
zur Ehre dargebracht wird, soll sie nur schwach und hilflos halten),
die
hierarchischen Sitz- und Grußordnungen (wo Alter, so ab 40, nicht
als
Erfahrung, sondern als Behinderung gesehen wird), die Formalien des
gesellschaftlichen
Umgangs („Auf eine Verlobungs- anzeige antwortet man mit einer
schriftlichen
Gratulation“), wenn die Mehrheit aller Paare nicht mehr heiratet,
geschweige
denn sich verlobt. Solche Ratschläge in aktuellen
Benimmbüchern
sind nur vergebliche Versuche, ein erkennbares Defizit an Umgangsformen
durch
antiquierte Höflichkeitsrituale aufzuheben.Wo es aber keine
Stände
mehr gibt, muss es auch am Anstand fehlen, kann Verhalten alles
Mögliche
sein, nur nicht unanständig. Schon die Sprache entlarvt
Höflichkeit
als reaktionär. Was schert uns Demokraten die Etikette? (Ludwig
XIV.
soll, als sich im Schlosspark von Versailles niemand mehr an die
aufgestellten
Schildchen = Etiketten hielt, die das Betreten des Rasens untersagten,
ein
Dekret erlassen haben: „Jedermann muss sich an die Etiketten halten.“)
Und
warum soll ich links von einer Frau gehen, wenn ich für
gewöhnlich
keinen Degen an meiner linken Seite trage, der gegen ihre Beine
schlagen
könnte?
Solch
ein modernes Benimmbuch wäre gewiss amüsant, würde aber
nicht
viel an den unerträglich wer- denden Verhältnissen
ändern. Denn nicht die Regeln sind das Problem, sondern unser
aller Sozialverhalten.
Ökonomisch
sorgenfrei trieben wir den Individualismus bis zum Narzissmus, machten
uns
und unsere Befindlichkeit zum Maßstab aller Dinge. Was
vergnüglich
und befreiend war, erweist sich nun als infantil, zerstörerisch. Immer
häufiger trifft man Menschen, denen ihr asoziales,
rücksichtsloses
Verhalten nicht mehr bewusst wird. Unfähig, Triebverzicht zu
leisten,
handeln sie nach ihrer Lust und Laune, ohne für ihre Handlungen
die
geringste Verantwortlichkeit zu empfinden. (Viele jugendliche
Straftäter
wissen wirklich nicht, was sie tun.) Dem ist nicht mit
Benimmbüchern,
autoritären Normen, Erziehungsanstalten oder gar
Justizmaßnahmen
beizukommen, da es sich um ein gesamtgesellschaftliches
Phänomen der egozentrischen Selbstverwirklichung
handelt. Der erfolgreiche Ellbogenvirtuose unterscheidet sich vom
jugendlichen
Bandenboss nicht mental, er hatte nur mehr Glück und bessere
Chancen
in der Wahl seiner Strategie. Beide handeln, wie es ihnen nützlich
scheint,
ohne Verantwortung, Rücksichtnahme. Ursache dafür ist nicht
schlechtes
Benehmen, nicht das Versäumnis, ihnen beigebracht zu haben, welche
Hand
man als „richtige“ reicht (im Gegenteil, die größten
Schurken
wissen sich meist formvollendet zu benehmen), sondern mangelnde
Sozialisation
in der Kindheit. Dabei dominiert längst nicht mehr die einst viel
beklagte
Wohlstandsverwahrlosung, als Kinder statt Rat und Anleitung
Geldgeschenke
erhielten und sie nichts entbehrten außer der Fürsorge.
Heute
ist es vielmehr die oft absurde Rücksichtnahme auf Kinder, auf
ihre momentanen Bedürfnisse, ihre Selbstverwirklichung.
Vor allem allein erziehende Mütter und Väter
überhäufen
ihr eigen Fleisch und Blut mit all der Aufmerksamkeit, Hilfs-
bereitschaft,
die sie ihrem Zeugungspartner nicht gewähren konnten oder wollten.
Nicht
selten entwickelt sich dabei das Objekt ihrer Liebe, die meist nur
Verhätschelung
ist, zur terroristischen Plage, bis das Verhältnis
Was
wir brauchen, sind nicht so sehr Benimmbücher, wichtiger
wären
Erziehungs-Ratgeber, notwendig © 1999 Karl Pawek
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