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Thomas Steinfeld

Rein ist nur, was nicht mehr wächst

Die Größe der deutschen Sprache liegt in ihrer Fähigkeit zur Anverwandlung: Eine Verneigung vor dem Genie der Bescheidenheit

In diesem Frühjahr, die Bäume hatten noch nicht ausgeschlagen und der Strand lag leer, eröffnete in dem kleinen Dorf an der schwedischen Ostseeküste, in dem ich seit vielen Jahren die Sommerferien verbringe, eine antiquarische Buchhandlung, nachdem das Geschäft, das dieses Lokal zuvor genutzt hatte – eine Spezialhandlung für Naturschwämme und ökologisch angebaute Hülsenfrüchte –, in Konkurs gegangen war. Geführt wird sie von einem jungen Mann, den vor allem der niedrige Preis der Immobilie in diesen Ort geführt zu haben scheint. Man betritt das Antiquariat über eine Treppe, an deren Seiten Kartons aufgestellt sind, die, eng aneinandergepresst, eine wilde Auswahl von Büchern in meist billigen Editionen enthalten, Erica Jongs "Fear of Flying" in der Ausgabe eines Buchclubs aus den siebziger Jahren, oder "Die amerikanische Herausforderung" von Jean-Jacques Servan-Schreiber als Taschenbuch mit gebrochenem Rücken, und auch der Tisch in der Mitte des ersten Raums enthält kaum mehr als diese Art von Literatur, die es, auf eine merkwürdig abstoßende Weise, binnen kürzester Frist schafft, sehr alt zu wirken.

Ich wollte schon wieder gehen, als mein Blick auf ein Regalbrett mit älteren Büchern fiel, deren Titel zum Teil in Fraktur gesetzt waren. Das sah der Buchhändler. Leider könne er diese "deutsche Schrift" kaum entziffern, sagte er. Ich las ihm vor, auch das, was in lateinischen Lettern gedruckt war und gleichwohl sehr fremd wirkte. Von Friedrich Lienhard standen "Westmark", "Der Spielmann" und "Wege nach Weimar" im Regal, von Adolf Bartels "Die Dithmarscher" und "Dietrich Sebrandt", daneben Julius Langbehns "Rembrandt als Erzieher". Als ich später eine Nachbarin, eine Frau von fast neunzig Jahren, nach dem Namen fragte, den ich in einem dieser Bücher auf einem Exlibris entdeckt hatte, stellte sich heraus, dass der ursprüngliche Eigentümer dieser deutschen Heimatkunst vor dem Zweiten Weltkrieg Pfarrer in einer der reichen Bauerngemeinden auf der Ebene oberhalb der Küste gewesen war.

So lernte ich das Antiquariat kennen. Es entpuppte sich als Schatzkiste, und zwar nicht nur für die Literatur der vorletzten Jahrhundertwende. Kants "Kritik der reinen Vernunft" in einer Ausgabe aus dem Jahr 1806 gehörte zum Bestand, Flauberts "Madame Bovary" in einer deutschen Übersetzung von 1907 und nicht zuletzt: eine lange Reihe von Romanen des um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts viel gelesenen Stuttgarter Hofrats, Kriegsberichterstatters und Gartenbaudirektors Friedrich Wilhelm Hackländer. Erworben hatte der junge Antiquar diese Bücher auf Zügen durch die Nachlässe und Hinterlassenschaften der Region und auch, indem er bei Kollegen in der Gegend nach Büchern schaute, die ihm wertvoll dünkten, dort aber den Bodensatz des Unverkäuflichen bildeten. So kam beides zusammen, die Ökumene der deutschen Sprache, die sich bis nach dem Zweiten Weltkrieg nicht nur weit in den europäischen Osten und Südosten, bis nach Triest und Brody, sondern mindestens ebenso weit nach Norden erstreckt hatte, bis nach Trondheim und Reval. Und das Vergessen, dem diese Ökumene innerhalb weniger Jahrzehnte anheimgefallen war.

Über diese Ökumene kann man sich nicht genug wundern. Denn Adolf Bartels und Friedrich Lienhard, zwei Gestalten, die im wilhelminischen Kaiserreich groß geworden waren, zum Trotz: Die Ökumene der deutschen Sprache war entstanden, ohne dass es einen Staat gegeben hätte, der ihr Kraft und Reichweite verliehen hätte. Es gab sie, geographisch und sozial weit ausgreifend, aber durchlässig, definiert, doch oft genug ohne Gewalt im Rücken. Über Jahrhunderte hatte sich, von keiner politischen Macht garantiert, von keiner militärischen Gewalt gesichert, ein Kontinent der deutschen Sprache herausgebildet, der durch nichts so zusammengehalten wurde wie eben durch den Wunsch, sich auf Deutsch zu verständigen – als Lessings "Minna von Barnhelm" erschien, gab es zwischen Hamburg und Wien, Zürich und Königsberg wenige Orte, an denen das gebildete Publikum nicht fast jedes Wort verstanden hätte. Diese fast übergründliche Normierung vollzog sich von allein, ohne Kommission, ohne Rat, ohne wissenschaftliche oder staatliche Aufsicht.

Der Kontinent der deutschen Sprache hatte seine größte Ausdehnung wie seine äußerste Feinheit spätestens um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts erreicht, deutlich vor der Bildung eines deutschen Nationalstaats. Dabei war die deutsche Sprache damals so schwierig wie heute, ja womöglich noch viel schwieriger, und keine Initiative eines Auswärtigen Amts verhalf ihr mit dem ebenso politischen wie trügerischen Versprechen der Ermäßigung durch Sympathie oder mit einer Charme-Offensive auf die Beine. Kein Goethe-Institut rief aufgekratzt: "Deutsch macht Spaß!" Nein, in dieser erkennbar literarisch geprägten Sprache lag eine selige Sicherheit, etwas, das man zwar gern dem Land oder Territorium als Ideal zuschreibt, der Heimat, der Herkunft, der primären geographischen und sozialen Orientierung, das aber allein in der Sprache zu finden ist.

Man kann die deutsche Sprache nicht loben, denn Loben ist ein verfängliches Geschäft. Wer lobt, setzt herab, für das Eine, das er auszeichnet, muss er vieles andere geringer schätzen. Auch deshalb kann man eine Sprache nicht allein preisen. Ein jeder hat seine, und während sie doch viel länger währt als jeder Einzelne, der sie spricht, so ist sie doch in jedem Einzelnen anwesend, mit jenem unverwechselbaren Zungenschlag, der nur dem gegeben ist, der hineingeboren wurde, und der auch beim Weltläufigsten jede Fremdsprache als etwas von außen Hinzugekommenes erkennbar werden lässt.

Selbst wenn einem etwas einfiele, das die deutsche Sprache bemerkenswert vor allen anderen Sprachen erscheinen ließe – und es gibt solche Eigenheiten, die Ausbildung der Flexion etwa, die linguistische Feinmechanik mit all ihren Sicherheitssystemen der Redundanz, mit ihren parallel eingerichteten Rädchen und doppelt angelegten Halterungssystemen, oder den Satzbau, die Musikalität des Periodenbaus bis hin zum dritten Grad – , so wäre man doch für ein solches Lob auf Indizien verwiesen, und wer mit Indizien argumentiert, der macht sich zu einem Pedanten auf schwankendem Grund. Und doch gibt es an der deutschen Sprache dieses Eine hervorzuheben, diese Staatsferne, die sie einem angenehm machen kann, angenehm in dem Sinne, dass man sich freut, dass es sie gibt, und man darauf achtet, dass sie nicht verloren geht. Ohne deswegen zu viel über andere Sprachen sagen zu wollen.

Hat man je darüber nachgedacht, dass die wichtigsten deutschen Dichter stets Gestalten der Unstaatlichkeit waren und es immer noch sind, und zwar auch dann, wenn sie, wie Heinrich von Kleist oder Franz Kafka, die Sprache der Amtsstuben auch in die Literatur trugen? Wo wäre der Staat, die politisch verfasste nationale Bewegung gewesen, für die Johann Wolfgang Goethe geschrieben hätte? Das Herzogtum Sachsen-Weimar auf seinen dreißig Quadratkilometern? Oder Jean Paul? Oder Wilhelm Raabe? Noch Peter Handke und W. G. Sebald, auch sie Figuren von ambulanter Sesshaftigkeit, bewegen sich in einer literarischen Welt, in der politische Grenzen das Unangemessene schlechthin darstellen – man denke nur an die quälend absurde, nicht zufällig die Geschichte vom Jäger Gracchus wiederholende Episode vom verschwundenen Pass in W. G. Sebalds "Schwindel. Gefühle". Wo immer sich ein deutscher Schriftsteller als Staatsdichter imaginiert, wird er entweder von der Geschichte bestraft, und zwar mit erstaunlicher Geschwindigkeit – Ernst von Wildenbruch, Adolf Bartels, Peter Schneider –, oder sein angemaßter Rang beruht auf einem Missverständnis.

Thomas Mann hat nie für Deutschland geschrieben, sondern stets für ein anderes, besseres, jenseitiges Gemeinwesen, für eine Nation ohne Staat, und die Bedeutung, die Günter Grass heute erfährt, mag durchaus auf einer Verwechslung von Eigensinn und Bockigkeit mit Republikanismus beruhen. Wie anders nimmt sich das Verhältnis zwischen Staat und Literatur dagegen in Großbritannien aus, vor allem in den seltsamen Verbindungen zwischen Dandy und Kolonialoffizier, denen die britische Dichtung, von Somerset Maugham über Graham Greene bis zu Bruce Chatwin, viele ihrer besten Werke verdankt? Oder in Frankreich, wo es selbst Michel Houellebecq nicht gelingt, ja vielleicht vorsätzlich misslingt, sich von den kulturkritischen Aufgaben eines poetischen Politikers zu befreien, wie sie André Malraux und Jean-Paul Sartre vorgezeichnet haben. Noch heute sind die Deutschen offenbar nicht in der Lage, die Präsidentschaften ihrer Akademien für Sprache und Dichtung mit eigenen Schriftstellern zu besetzen – es herrschen dort die Professoren, manchmal auch Ungarn und gelegentlich ein Schweizer. Aber es regiert dort nicht ein deutscher Dichter.

In diesen Schriftstellern, in diesen Figuren der Unstaatlichkeit, spiegelt sich bis heute die Geschichte der deutschen Sprache in ihren besten Momenten. Diese Geschichte hat, in ihrem langen Verlauf vom frühen Mittelalter bis zum neunzehnten Jahrhundert, immer wieder etwas beinahe Wunderbares gehabt: die Fähigkeit, sich selbst zu gestalten, sich selbst zu normieren, dabei aber den größten Respekt vor dem von außen Hinzukommenden walten zu lassen, einen Respekt, der immer wieder Züge der Begeisterung, ja sogar der Bekehrung aufweist. Der Abrogans, das erste deutsche Buch, in der Stiftsbibliothek von St. Gallen zu sehen, ist ein Wörterbuch, das alte und schwer verständliche lateinische Wörter durch althochdeutsche Synonyme erklärt. Wenn die geistig führenden Männer des achten Jahrhunderts es vordringlich fanden, jedes dieser Wörter mit einem althochdeutschen Pendant zu versehen, dann dürfen wir sie wohl nicht für Narren halten, sondern müssen zugeben, dass sie als Erste taten, was die Kenner des Deutschen in der Geschichte immer wieder unternommen haben: Das Fremde erkennen, schätzen, übernehmen, ihm aber seine Kenntlichkeit lassen, ja oft genug daran Seiten entdecken, die vorher nur latent waren.

In einer Entwicklung, die sich über Jahrhunderte hinzog, nahm das Deutsche das Lateinische in sich auf, indem es sich zu ihm bekehrte wie zu der neuen Religion, die mitsamt einer ganzen säkularen Kultur, der griechisch-römischen Antike, die Alpen überquert hatte. Natürlich kann man, um dafür nur ein Beispiel zu nennen, alles, was man ausdrücken will, auch ohne Futur und ohne Passiv sagen. Da das Lateinische mit diesen beiden Formen aber etwas außerordentlich Effizientes zu besitzen schien, hat das Althochdeutsche angefangen, sich diese Ausdrucksmittel zu besorgen – und vielleicht sogar mehr daraus zu machen, als das Vorbild bot. Der wunderbare deutsche Ausruf "Hier wird gearbeitet!" ist syntaktisch das Ergebnis einer sich über Jahrhunderte hinziehenden Reflexion über eine lateinische Verbform und den Satz "hic laboratur".

Wenn die deutsche Sprache die Kraft besaß, sich gleichsam natürlich über weite Teile Europas auszudehnen, dann nur, weil sie in besonderem Maße diese Fähigkeit zur Aneignung besaß. Und umgekehrt verschwand diese Kraft im selben Maß, wie es einen souveränen deutschen Staat gab, der in diese Freiwilligkeit, in diese ledige Bereitschaft zum Lernen eingriff. Der nicht verstummende Unwille, der seit acht Jahren die ebenso hoffärtigen wie bürokratischen Versuche begleitet, die deutsche Rechtschreibung neu zu verwalten, ist ein spätes Zeugnis des Wunderbaren an der deutschen Sprache, wie die Reform ihrerseits Ausdruck der Schwäche einer Sprache ist, über die der Staat verfügt.

Das Altfranzösische hatte die Modelle für die deutsche höfische Literatur geliefert, und nach diesem Vorbild bildete die deutsche Literatursprache ihre Prinzipien um und schuf eine eigene poetische Prosodie mit regelmäßigen Hebungen und Senkungen. Bis ins achtzehnte Jahrhundert konnte sie keinen Vers mehr ohne einen Reim bilden. Und als das zu jener Zeit moderne Bedürfnis nach Zerstörung der Schranken, der geistigen wie der sozialen, übermäßig wurde, da war es die vermeintliche Imitation des Griechischen, die dem Deutschen das Konzept des freien Verses bescherte. Mit Friedrich Gottlieb Klopstock ergriff es die Gebildeten der ganzen Nation. Wenig später wuchs William Shakespeare zum dritten deutschen Klassiker heran. Dessen Blankverse wurden binnen kurzer Zeit so deutsch, dass Friedrich Schiller sie benutzen konnte, um die Alexandriner der "Phädra" von Racine kongenial zu übersetzen.

Diese Fähigkeit der deutsche Sprache zur Adaptation ist noch heute erkennbar darin, wie sie einem angelsächsischen Vokabular Raum lässt – auch wenn heute die Aneignung des Englischen, anders als die vorausgegangenen Adaptationen des Französischen und des Lateinischen, von einer törichten Hysterie des Mitmachens begleitet wird. Aber anstatt in dieser Aneignung auch eine große Stärke zu erkennen – die Stärke, die eine Sprache besitzen muss, die die Kulturleistungen der anderen aufnimmt, ohne sich ihnen zu unterwerfen, den Enthusiasmus des Lernens, der in jeder dieser Aneignungen steckt –, scheint es unter den Sprachverwaltern heute ausgemachte Sache zu sein, die Reinheit der deutschen Sprache bewahren zu wollen. Rein jedoch ist nur, was sich nicht mehr verändert und also nicht mehr wirkt.

Keine natürliche Sprache braucht wirklich Hilfe von außen, auch das Deutsche nicht. Aber keine Sprache ist nur Sprache, und keine ist nur autonom. Das Deutsche, wenn man es einmal metaphorisch zur Person machen darf, erklärte sich, wenn andere Kultursprachen Errungenschaften zeigten, die ihm fremd waren, immer bescheiden als unterlegen. Es ist daran gewachsen wie keine andere Sprache, und es hat daran sein eigenes Genie herausgebildet – das Genie des Satzbaus, dessen Herrschaft über die deutsche Schriftsprache erst im zwanzigsten Jahrhundert allmählich erlischt. Das Deutsche ist der wahre, der ernste und gewissenhafte Schüler des Lateinischen gewesen, nicht das Französische und schon gar nicht das Italienische.

Das Deutsche war einmal, und auch das verraten die Bestände des Antiquars an der schwedischen Ostseeküste, in vielen Fächern die Gemeinsprache der modernen Geisteswissenschaften, von ihren Anfängen im Jena des ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts bis zu Friedrich Gundolf, Erich Auerbach und Ernst Robert Curtius. Es war die Sprache der idealistischen Philosophie, der klassischen Philologie und der Geschichtswissenschaften, die Sprache des Marxismus, der Volkswirtschaft und der frühen Soziologie sowie der Psychoanalyse. Der Grund dafür ist nicht nur in ausgeprägten wissenschaftlichen Stärken zu suchen oder in den Arbeitstechniken der reformierten Universität, sondern auch und vor allem in der Nähe der Wissenschaftssprache zur Literatur. Diese Sprache hat die Wissenschaften hinausgeführt in die Öffentlichkeit, und am Interesse der Öffentlichkeit sind die Wissenschaften gewachsen. Einfach ist diese literarische Sprache der Wissenschaften nicht, sie kann es nicht und muss es auch nicht sein. Und es wäre ja darüber hinaus durchaus möglich, dass die Schwierigkeit des Deutschen potenziellen Lernern sogar als Attraktion erscheint, weil sie wissen, dass die Schwierigkeiten der scheinbar übertriebenen Formalisierung eine Art Zoll sind, den man für die permanente Integration des Fremden entrichten muss.

Hätte sich das Deutsche mit den Konfessionen im sechzehnten Jahrhundert geteilt, hätte es spätestens im achtzehnten Jahrhundert ein starkes mitteleuropäisches Reich gegeben – wie wäre dann die Geschichte der deutschen Sprache verlaufen? Wäre es ihr gegangen wie dem Französischen, das seit dem siebzehnten Jahrhundert normiert ist, wozu ein reduzierter Wortschatz und eine mittelalterliche Orthographie gehören, die bei ihrem Anblick den Klang der Sprache nicht einmal erraten lässt? Hätten die Deutschen dann noch das Bedürfnis gehabt, sich nach anderen Kulturen auszurichten?

Vielleicht hat die deutsche Sprache auch davon profitiert, dass gewisse Funktionen einer Nationalsprache lange Zeit anderen Sprachen übertragen waren – dem Lateinischen, dem Französischen, so dass ihr Innerstes frei wurde für die ästhetische und theoretische Spekulation. Seit dem ausgehenden neunzehnten Jahrhundert jedenfalls gerieten die Konversionen des Deutschen zu immer bescheideneren Unternehmungen, was wohl nicht nur daran lag, dass die deutsche Wissenschaft international führend geworden war, sondern auch daran, dass Sprache und Staat zunehmend in eins fallen sollten. Vielleicht aber hatte die Befreiung der deutschen Sprache von politischen und repräsentativen Zwecken für einen Entlastungsdruck gesorgt, der geradewegs in Kunst und Wissenschaft mündete? Wenn das so war, dann ist diese Kraft und diese Freiheit verloren, und das ist zuerst an der Sprache der Wissenschaften selbst abzulesen.

"Es stellt sich die Frage, wie es gelingen kann", hieß es im Programmheft zum diesjährigen Germanistentag, "den historisch gewachsenen Pluralismus kultureller Traditionen auch bei zunehmender europäischer (und globaler) Integration allein schon als Ressource der Diversität für die weitere sozio-kulturelle Evolution zu erhalten." So, in dieser Sprache, möchte man sagen, wird man es auf keinen Fall schaffen. Es ist der Gestus der Staatlichkeit, die imaginierte Verantwortung für das politisch verfasste Gemeinwesen, die Arroganz einer eingebildeten Verwaltung, die diese Sprache so unerträglich macht. Auf diese Weise, und auf keine andere, betreibt man den Ruin der deutschen Sprache. In den angelsächsischen Ländern hat die große Distanz des intellektuellen Betriebs zu staatlichen Instanzen die angenehme Nebenwirkung, dass auch akademische Werke lesbar blieben, indem sie eine große Nähe zur Literatur behielten.

Unter den Büchern, die ich im Antiquariat des kleinen schwedischen Dorfes an der Ostseeküste erworben habe, befindet sich ein schmaler Band aus dem Jahr 1948, der den Titel "Die Geheimwissenschaft der Literatur" trägt. Verfasst von Joachim Maaß, einem in die Vereinigten Staaten emigrierten Schriftsteller, enthält es eine Art Poetologie für Anfänger, die der Autor seinem offenbar wenig gebildeten weiblichen Publikum am Mount Holyoke College in Massachusetts vorgetragen hatte. "Wenn ich mir selber vorstelle, dass ich nicht in die menschenleere Stille meiner Arbeitsstube hineindenke, sondern in die lebendige Gegenwart einer studentischen Hörerschaft hineinspreche", heißt es im Vorwort, "so wird es mir vielleicht gelingen, den Leser in eine ähnliche Illusion hineinzunötigen."

Das Deutsche ist mit solchen Fiktionen der Schwäche groß geworden. Klein geworden ist es später, als es, machtgestützt und politisch gefördert, auf seine Stärke pochte und dabei seine Ökumene verlor.

(Dieser Vortrag wurde auf dem Deutschen Germanistentag 2004 in München gehalten)