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Robert Menasse

LOB DER DEUTSCHEN SPRACHE
(Rede zur Eröffnung des internationalen Germanistenkongresses, am 12. 9.2004 in München)
 
Unlängst fand ich in der „to do – list“  auf meinem Palm Desktop den Vermerk: „Lob der deutschen Sprache schreiben! Dringend!“

Nun werden selbst Sie zugeben, dass es gegenwärtig sehr vieles gibt, das wesentlich dringender ist, aber was mich mit dumpfen Erstaunen minutenlang beschäftigte, war die Frage, wie ich überhaupt auf die Idee kommen konnte, ein Lob der  deutschen Sprache schreiben zu wollen. Habe ich nichts mehr zu sagen, außer wie schön die Sprache ist, mit der ich nichts mehr zu sagen habe?  Werde ich alt, will ich nur noch voll Rührung preisen, was mir in die Wiege gelegt worden ist – meine Muttersprache? Oder hatte ich, als ich diese Eintragung machte, bereits zuviel Wein getrunken und mich daraufhin mit einer meiner Romanfiguren verwechselt?  Die Hauptfigur meines letzten Romans („Die Vertreibung aus der Hölle“) beginnt nach dem Abitur ein Germanistikstudium. Vom Großvater gefragt, was er denn studiere,  antwortete er, er studiere Deutsch. „Warum“, fragte der Großvater daraufhin, „studierst Du etwas, das Du schon kannst?“ Etwa deswegen?

Germanistik – ja, da fiel es mir wieder ein. Das „Lob der deutschen Sprache“ sollte ein Auftragswerk sein, anlässlich des Germanistenkongresses 2004 in München. Nun überkam mich erst recht Panik. Wahrscheinlich hatte ich, als mich der Anruf mit dieser Einladung ereilte, gerade ein Stück luzider Prosa geschrieben, war am Telefon nicht ganz bei der Sache und habe alles gründlich missverstanden. Wahrscheinlich sollte ich ein Lob der deutschen Literatur schreiben, möglicherweise sogar ein Lob der deutschen Germanistik (keine Schwierigkeit: die Germanistik ist in Deutschland, was der Fußball in England ist: im Mutterland kaum zu schlagen!) – aber ein Lob der deutschen Sprache? Welcher deutschen Sprache? Womöglich der Sprache der Germanisten?

Zum Glück fand ich in meiner mailbox eine message jenes Herrn, der für die Organisation dieser Tagung verantwortlich ist. Dieses Schreiben, das die Einladung gemäß unseres Telefonats vom soundsovielten sowie ein symbolisches Honorar bestätigte (warum wird eigentlich in der Psychoanalytischen Theorie nie das Honorarsymbol untersucht?), dieses Schreiben endete mit den Vertrauen einflößenden Worten: „Bei allfälligen Fragen zögern Sie bitte nicht....“, - - eine Floskel aus dem Business-English,  die auch in deutscher Übersetzung so englisch klingt, dass ich sicher war, dass ein Anruf das Missverständnis um das Lob der Deutschen Sprache augenblicklich ausräumen würde.

Aber leider. Eine aufgeräumte freundliche Stimme bestätigte, dass tatsächlich ein Lob der deutschen Sprache bei mir bestellt worden sei, ich hätte zugesagt, und die Flyer, sagte er, seien bereits gedruckt.

Ein Lob der deutschen Sprache, sagte ich, ja aber, was – ich stammelte -, was stellen Sie sich da vor, was erwarten Sie?

„Keine Ahnung!“, sagte die Stimme vergnügt.

Ich weiß nicht, ob das mit der deutschen Sprache zu tun hat, aber es scheint mir doch mit dem deutschen Wesen zu tun zu haben: Die Gabe, jederzeit aus keiner Ahnung eine Fragestellung und einen Auftrag formulieren zu können. Aus diesem Grund durchweht das Deutsche seit jeher etwas Philosophisches.

Sprachen haben ja, so wie jede andere menschliche, gesellschaftliche oder nationale Lebensäußerung, ein Image. Das Englische zum Beispiel hat das Image, der internationalen community Begriffe wie zum Beispiel eben „Image“ liefern zu können, Begriffe, mit denen wir die Außenwelt ohne Innenwelt unkompliziert handeln können. Nicht „handeln“, sondern „händeln“. Weil jetzt auch Deutsche zwar nicht handeln, aber alles mögliche händeln können, gilt Englisch als pragmatisch. Das Deutsche hingegen hat das vom Englischen klar abgegrenzte, höchst widersprüchliche Image des bleischwer Luftigen, des niederdrückend Abgehobenen, des tief empfundenen Höhenflugs, der schwermütigen Emphase beim Ausdrücken von Eindrücken. Kurz: das bekannte Dichter-und-Denker-Label.

Solche Zuschreibungen sind natürlich ein Unsinn, denn zweifellos sind Dichter und Denker auch im deutschen Sprachraum eine winzige Minderheit, wenn nicht gar eine bedrohte Art. Andererseits ist völlig unerheblich, ob das, was wir glauben, beweisbar ist oder gar wahr, wichtig ist ja nur, ob wir damit leben wollen und leben können. Bekanntlich hat ja das Leben auf der Welt auch im Glauben an das ptolemäische Weltbild funktioniert. Selbst heute lebt ein erstaunlich großer Prozentsatz der Weltbevölkerung im Glauben, dass die Welt eine Scheibe ist, und es sind zweifellos nicht diese Menschen, die für die gegenwärtigen großen Weltprobleme verantwortlich sind. Die Frage ist vielmehr, ob wir das wollen, ob wir damit leben und daran glauben wollen, dass das Deutsche in besonderer Weise zum Dichten und Denken befähigt. Das ist natürlich auch eine Frage nach unserem Umgang mit Geschichte, nach der Gewordenheit des „Deutschen“ in einem umfassenderen Sinn. So viel ist in den deutschen Landen missglückt, oder verballhornt worden  oder zum Teil erst verspätet durch äußeren Druck zustande gekommen: die bürgerliche Revolution; die Nationswerdung; der Erwerb von Kolonien, also die Vorstufe der Globalisierung; bürgerliche Freiheit als wahres Selbstverständnis und in wahrer Selbstbestimmung; der Sozialismus;  Aber all dies ist hymnisch besungen und programmatisch gedacht worden. Ich persönlich halte ja die „Dichter und Denker“-Floskel für ein Beispiel von Selbstironie eines als humorlos geltenden Volkes. Aber soll das nicht nur alles sein, sondern auch alles bleiben, zumindest vorläufig? Ist das ein Anspruch, der, wenn er schon sonst niemanden kratzt, zumindest Germanisten befriedigt? Das erscheint mir so, als hätten sich die USA nach dem verlorenen Vietnamkrieg auf die Position zurückgezogen: Aber sprachlich beherrschen wir noch immer und erst recht die Welt!

Ohne jedoch in den Gefilden der Ironie wildern zu wollen, in die wir uns gedrängt fühlen, ist das Problem gerade heute noch komplexer: wenig hat dem Dichten in deutscher Sprache in neuerer Zeit so nachhaltigen Schaden zugefügt wie die Restaurationsanstrengungen des „Dichter-und-Denker“-Selbstbildes nach 1945. Nach der Nazi-Zeit war alles kaputt, was Deutschland zur Ausstattung von Selbstgefühl positiv ins Treffen führen konnte oder je wollte.  Politisch kriminell geworden, wirtschaftlich am Boden und von der Hilfe der Siegermächte abhängig, ideologisch verwirrt und teils willfährig teils verhohlen aggressiv im Zustand der Umschulung, geschlagen befreit. Wieder einmal ist alles schief gegangen.  Alles in Trümmern, in jedem Sinn. Eine Morgenröte, schwarz wie die Nacht.

Aber auch oder gerade wer in materiellen Trümmern lebt, will ein Firmament, will in der schwärzesten Nacht noch Sterne sehen. Will sagen können: Dies sind unsere Leitsterne! Will der Welt sagen können: Dies ist der Himmel, unter dem wir leben!

Die Kriegsschuld war nicht wegzudiskutieren, die Kriegsverbrechen, die zivilen Verbrechen, der Genozidversuch an den Juden, Zwangs- und Sklavenarbeit in den deutschen Betrieben, die Verblendung, das Mitläufertum. Das „Volk der Dichter und Denker“ war nun das der „Richter und Henker“ – aber genau dies war objektiv das Einzige, das einen positiven Anknüpfungspunkt an eine unschuldige Vergangenheit zu bieten schien. Diese Floskel, aus historischem Ungenügen, aus fortgesetztem Scheitern in der Praxis geboren, erwies sich nun als letztes und erstes Glück der romantischen und romantisch betrogenen deutschen Nation. „Dichter und Denker“. Schließlich waren es nicht sie selbst, Goethe und Schiller, Hegel und Kant, die zu Richtern und Henkern geworden waren, sie sind nur von einer kriminellen Richter- und Henker-Bande missbraucht worden.  Nur hier, nur an diesem Angelpunkt war das Nachkriegs- „Richter und Henker“-Image wegzudiskutieren, umzudrehen, aufzuheben. Viel wurde darein investiert. Heute fragt man sich: war Goethe jemals etwas anderes als ein Institut? 

Aber das zeigt nur, wie konsequent und wie organisiert der Anspruch war. Zur großen Verwüstung aber in der deutschsprachigen Dichterlandschaft führte der „Vertrag zum wechselseitigen Missbrauch der Denkwerkzeuge“ zwischen der deutschen Öffentlichkeit und Marcel Reich-Ranicki. 

Ein geistig sich aufbäumendes Deutschland wollte sich aus den Trümmern seiner Ideale erheben, zu unschuldigen Idealen zurückfinden,  so vieles wieder gut machen:  Den Überfall auf Polen, der den brutalsten Krieg der Menschheitsgeschichte ausgelöst hatte, die Judenvernichtung, das größte systematische Verbrechen aller Zeiten. „Dichter und Denker“ – dieses Label sollte als einzig mögliches positiv zurückerobert werden.  So kam es, dass eines Tages weißer Rauch ins schwarze Firmament über Deutschland aufstieg: Deutschland hatte einen polnischen Juden zum Papst der deutschen Literatur gewählt.  Dieser sollte nun in dem Land, das Polen überfallen und die Juden zu vernichten versucht hatte, unfehlbar darüber entscheiden, was deutsche Dichtung sei und ihre Größe ausmache, und so im historisch übergreifenden „Guten, Wahren und Schönen“ jene Wiedergutmachung im Image nach außen und im Selbstgefühl leisten, die politisch und materiell unmittelbar nicht möglich war.  Ein Volk (man kann es nicht anders sagen, als mit diesem seltsamen Begriff), suchte Entlastung nach dem Desaster mit einem politischen Führer und inthronisierte einen Führer im Sprachlich-Literarisch-Geistigen. Es fügte der Geschichte des deutschen Misslingens in der Praxis, für die das „Dichter und Denker“-Label schließlich steht, just zur Rettung dieses Labels ein weiteres Beispiel des Misslingens an. Nicht die von den Nazis verfolgten und vertriebenen Dichter, Kritiker und Denker wurden letztlich die Leitsterne der postfaschistischen Nation, sondern ein exemplarisches Opfer der politischen Verbrechen Deutschlands sollte dem deutschen Geist Unschuld, Größe und Wirksamkeit zurückgeben.

Der arme MRR wurde auf eine so unfassbare Weise missbraucht, dass nicht einmal die Tatsache, dass MRR seinerseits die deutsche Öffentlichkeit gnadenlos missbrauchte, einen vernünftigen Ausgleich herstellen konnte. Aus der deutschen Literatur, dem aus Sprache hergestellten letzten und einzigen Kitt für die Brüche deutscher Geschichte, wurde in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein Exerzierfeld, auf dem sich Publikum und MMR, gedemütigter Größenwahn in Form neuer Gutgläubigkeit und gedemütigte Gutgläubigkeit in Form von wachsendem Größenwahn gegenüberstanden. Und Wahrheit, der dichterische Anspruch schlechthin, wurde dazwischen zerrieben und war am Ende nichts anderes als die jeweilige Konstellation der Irrtümer von MRR.  Er produzierte ein doppeltes literarisches Leben und eine doppelte Katastrophe: Es kam zu einem literarischen Leben, in dem Bücher gedruckt wurden, und einem, in dem sich Bücher durch Reich-Ranickis Daumen erst veröffentlicht fanden. Und es war für Generationen von Autoren eine Katastrophe von ihm ignoriert zu werden, aber ebenso eine Katastrophe von ihm beachtet zu werden. Die Sitten in einem Bereich, der heilig gesprochen werden sollte, die Sitten in der Auseinandersetzung mit Literatur verwilderten, auf Grund der autoritären Willkür des Mannes, dessen verballhornter Lukacsianismus die deutsche Literatur bereits medienwirksam in einen Container steckte, als Container noch lange kein deutsches Wort war.

Muss ich jetzt eigentlich klarstellen, dass ich nicht über einen Menschen, sondern über ein Symptom rede? Dass der Name bloß eine Chiffre ist für ein Symptom? Zurück zu den Menschen:

Wenn ich so vor Ihnen stehe, zu Ihnen spreche, zu über hundert deutschen Germanisten, dann überkommt mich Grauen. Ich sehe Ihre Gesichter nicht, kenne Ihre Namen nicht. Haben Sie denn keinen Ehrgeiz? Kein Bedürfnis nach Wirksamkeit und angemessener Anerkennung? Arbeiten Sie alle hier nicht wesentlich gründlicher und genauer als der „Papst“? Sollten Sie die ersten Deutschen, noch dazu mit Dichtung befassten Deutschen sein, die die These des großen deutschen Denkers G.W.F. Hegel Lügen strafen, dass es bei der Arbeit wesentlich auch um gesellschaftliche Anerkennung geht? Warum kenne ich Ihre Publikationen nicht? Warum begnügen Sie sich mit Ehrerbietungsgesten innerhalb Ihrer Insitutsgrenzen oder bei Fachkongressen? Warum sprechen Sie nicht laut und öffentlich vernehmbar aus, was Sie hier in den Kaffeepausen raunen, zum Beispiel über den Stand der Deutschen Literaturkritik? Warum treten Sie nicht aus dem Schatten des Papstes, warum nageln sie nicht Ihre Thesen an die Kirchentüren des deutschen Feuilletons? Wir kämen einen Schritt näher zur Zeitgenossenschaft! Wenn es in deutscher Sprache über die deutsche Sprache etwas Vernünftiges zu sagen gibt, dann doch nur dies:  dass unsere Sprache zum Dichten und Denken befähigt, ist unzweifelhaft wahr – weil dieser Satz in jeder Sprache wahr ist. Aber dass die Deutschsprachigen ein „Volk der Dichter und Denker“ sind, erweist sich nicht darin, dass auf Deutsch gedichtet und gedacht wird, sondern wird sich erst darin erweisen, wie die Gesellschaft mit Dichtern und Denkern umgeht, wie sie sich mit ihnen auseinandersetzt. Ich will keinem MRR die Stimme verbieten, aber ich will Ihre Stimmen deutlicher hören!

Was sonst soll ich Ihnen sagen?  Ursprünglich hat mich das Thema gelangweilt. Ich hoffe, ich habe Sie das nicht spüren lassen!